Aeternum
Straßenkleidung. Nur das Schwert an seinem Gürtel war ein vertrauter Anblick. Die Flügel hatte er halb ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten, ihr Licht möglichst weit gedämpft. Dennoch hoben sie sich deutlich vom dunkler werdenden Himmel ab.
Heißer Neid durchzuckte Jul. Dumpf pochte es in seinem Rücken. Wunden, die rein körperlich längst verheilt waren, aber doch nie aufhören würden zu schmerzen.
Nur am Rande nahm Jul wahr, dass der Engel ihn anstarrte. Sein eigener Blick klebte an den Schwingen.
»Du wirst im Dom erwartet.« Die Worte brachen den Bann. Jul zwang den Blick von den Flügeln zum Gesicht des Engels, doch die Züge sagten ihm nichts. Er war nur ein Mitglied der Schar, einer von Tausenden.
Mit einem trockenen Lachen schüttelte Jul den Kopf. »Ich werde ganz sicher nirgendwo erwartet. Ich bin ein Ausgestoßener, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
»Meine Befehle sind eindeutig. Du wirst im Dom erwartet, Iacoajul, Engel der elften Nachtstunde.«
Beim Klang seines vollen Namens fuhr Jul zusammen. Er hatte versucht, ihn zu vergessen, damit er ihn nicht ständig an das erinnerte, was er verloren hatte.
Mühsam drängte er das Gefühl des Verlusts beiseite und konzentrierte sich wieder auf den Boten. Wer konnte etwas von ihm wollen, und warum? Hatte er seine Nase in Angelegenheiten gesteckt, die ihn ihrer Meinung nach nichts angingen? Er warf einen kurzen Blick zurück zur Karte. Möglicherweise.
Aber sie hatten ihm nichts mehr zu sagen. Sie konnten ihn nicht erst rauswerfen und dann immer noch über sein Leben bestimmen wollen.
»Befehle!« Er schnaubte. »Das ist alles, was wir können, nicht wahr? Befehle befolgen. Dafür wurden wir geschaffen, das tun wir selbst nun noch, da unser Herr …«
»Der Herr wird zu uns zurückkehren.« Die Stimme des anderen war scharf wie eine frisch geschliffene Klinge.
»Der Herr ist tot! Seht es doch endlich ein. Wann merkt ihr endlich, dass ihr anfangen müsst, selbst zu denken?« Noch bevor die Worte seine Lippen ganz verlassen hatten, wusste Jul, dass er seinen Atem verschwendete. Er hatte all seine Argumente schon einmal vorgebracht, war damit gegen Mauern gerannt. Nichts hatte sich seitdem verändert. Abgesehen davon, dass er nicht mehr zur Schar gehörte.
»Du bist mehr ein Dämon als einer von uns!« Die Hand des Engels lag mit einem Mal auf seinem Schwert, er kauerte sprungbereit auf dem Fensterbrett. Doch das Schlimmste war die Verachtung in seiner Miene. Sie schmerzte Jul beinahe ebenso wie die Narben auf seinem Rücken.
Für einen Moment wirkte es, als wolle der Bote mit gezogener Klinge ins Zimmer stürzen, doch dann löste er die Finger vom Griff der Waffe, und seine Stimme wurde sanft. »Es ist nicht an mir, über dich zu richten. Komm in den Dom. Man will dir ein Angebot machen, du hast nichts zu befürchten.«
Er wartete nicht auf Juls Antwort, stieß sich nach hinten ab, drehte sich in der Luft. Kräftige Flügelschläge trugen ihn in die Höhe, hinein in den Nachthimmel, bis selbst das Glühen seiner Schwingen in der Dunkelheit verschwand.
Jul sah ihm noch lange nach.
*
Als Jul die Stufen zum Eingang des Berliner Doms hinaufstieg, war es kurz vor Mitternacht. Obwohl er wusste, dass der Dom zu dieser Zeit längst geschlossen sein sollte, zog er versuchsweise an einem der Türflügel. Zu seiner Überraschung schwang die Tür auf. Offensichtlich erwartete man ihn tatsächlich.
Jul trat in muffige Dunkelheit und durchquerte den Eingangsbereich mit zügigen Schritten. Schwaches Licht schimmerte durch die Glastüren, die in den Hauptraum führten.
Die Bankreihen lagen verlassen unter der hohen Kuppel, und die nächtliche Stadtbeleuchtung schimmerte durch die Friedenstaube aus buntem Glas an ihrem Scheitelpunkt. Auf dem Altar brannten ein paar Kerzen, und all das Gold auf den Fresken reflektierte ihren warmen Schein. Doch zwischen den Säulen am Rand des runden Raums lagen tiefe Schatten.
Obwohl er sich bemühte, möglichst leise aufzutreten, hallten seine Schritte von den Wänden wider, als er auf den Altar zuging. Angespannt hielt er inne und lauschte ins Halbdunkel. Flüsterte da nicht die Luft zwischen den Federn mächtiger Schwingen? Automatisch tastete Jul nach der Pistole in dem Schulterhalfter unter seiner Jacke. Doch in dieser Nacht lag sie zu Hause neben dem Handy. Trotz allem widerstrebte es ihm, eine solche Waffe an einen heiligen Ort zu bringen.
Flügelschlag. Jul legte den Kopf in den Nacken. Irgendwo
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