Aeternum
Vielleicht aber auch nicht. Er würde die anderen ohnehin nie vom Gegenteil überzeugen können. Er hatte es versucht, hatte sogar göttliche Gebote übertreten, und war gescheitert. Sollten sie doch bis ans Ende aller Zeiten warten. Sollten sie sich doch weiter durch die Welt tasten wie Blinde, obwohl sie einfach die Augen öffnen müssten, um etwas zu sehen. Jul hatte sich bemüht, ihnen zu zeigen, dass sie ihren eigenen Weg finden konnten. Aber er würde denselben Fehler nicht zweimal machen. Der Preis war zu hoch gewesen, viel zu hoch.
Unter Michaels abwartendem Blick richtete er sich gerader auf. »Was muss ich tun, um meinen Glauben zu beweisen?«
Der Erzengel wandte sich ihm wieder vollständig zu und lächelte, ehe sein Gesicht erneut im Schatten versank. »Ich nehme an, du hast von den Ereignissen auf dem Alexanderplatz gehört.«
6
D ie Scheibe beschlug unter Amandas Atem, so dicht stand sie davor. Der Raum dahinter erstrahlte in freundlichem Licht. Flauschige Teppiche bedeckten den Boden, ein breites Bett stand in der einen Ecke, ein großer Fernseher in der anderen. Roman hing auf einem der Sessel und spielte wie so oft irgendein Videospiel. Viel mehr gab es für ihn nicht zu tun. Er saß in einem goldenen Käfig.
Er war schon immer schlaksig gewesen, doch nun zeichneten sich unter seinem T-Shirt die Rippen ab. Oft genug verweigerte er das Essen. Als auf dem Bildschirm die Worte »Game Over« erschienen, ließ er mit einem Schulterzucken den Controller sinken, rieb sich in einer müden Geste über das Gesicht. Amanda vermisste sein Lächeln, sein Lachen. So lange hatte sie es nicht mehr gesehen. Stattdessen fielen seine Wangen immer weiter ein, und seine Haut hatte längst eine ungesunde, bleiche Färbung. Ein Jahr ohne Sonne. Ein verdammtes Jahr in diesem Keller.
Nebel legte sich vor Amandas Sicht, als ihr Atem schneller ging. Sie trat ein Stück vom Fenster zurück, sah zu, wie der beschlagene Fleck sich schnell wieder klärte. Doch das Gefühl, das ihren Puls in die Höhe trieb, blieb. Ein verdammtes Jahr, und sie hatte keinen Weg gefunden, ihren Bruder aus diesem Gefängnis herauszuholen.
Roman blickte auf, genau in ihre Richtung, und obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, erstarrte sie. Das Fenster war einseitig verspiegelt, wie man es in diesen Krimiserien immer in den Verhörräumen sah. Roman starrte durch seine Schwester hindurch, ohne zu wissen, dass sie da war.
Wenn sie doch nur gegen die Scheibe trommeln könnte, seinen Namen rufen, um ihn wissen zu lassen, dass er nicht allein war. Für einen Moment wurde das Bedürfnis übermächtig. Amanda hob die Hand, ballte sie zur Faust. Aber dann biss sie die Zähne zusammen, rammte die Hand wieder in ihre Hosentasche. Sie durfte es nicht. Nicht so. Auf der Liste der Dinge, die ihren Bruder umbringen würden, stand an dritter Stelle der Versuch, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Darüber nur Flucht und Verrat. Balthasar hatte diese Liste in die Innenseite ihrer Zimmertür gebrannt, damit Amanda sie nicht vergaß. Natürlich hätte er auch einfach einen Zettel schreiben können, aber das wäre nicht halb so eindrucksvoll gewesen. Ihr selbsternannter Herr hatte eine Schwäche für dramatische Gesten.
Amanda atmete tief ein. Sie hieß die zynischen Gedanken willkommen, schob sie wie einen Schutzschild zwischen sich und den Rest ihrer Gefühle. Langsam zog sie die Hand wieder aus der Tasche und zwang die Finger auseinander.
»Du verbringst zu viel Zeit hier unten.«
Amanda drehte den Kopf. Balthasar lehnte im Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte sich gleich nach ihrer Rückkehr vom Tagungszentrum ohne ein Wort in seine Räume zurückgezogen. Wenn er sich nun wieder blicken ließ, bedeutete das hoffentlich, dass er irgendeinen Plan hatte.
»Wenn es dich stört, solltest du mir verbieten, hier herunterzukommen.« Die trotzige Erwiderung kam automatisch, wie immer, wenn die Gefühle in ihrem Inneren tobten. Mit den Gedanken an ihre aktuellen Probleme kam auch die Nervosität zurück. Womöglich hatte sie ihren Bruder gerade zum letzten Mal gesehen. Sie schluckte. »Was geschieht eigentlich mit Roman, falls ich sterbe?«
Nachdenklich strich Balthasar sich über das Kinn, dann teilte ein Grinsen seine Lippen. »Sagen wir mal, es wäre besser für ihn, wenn du nicht stirbst.«
Schlagartig verkrampfte sich Amandas Magen zu einem festen Klumpen. Wenn sie im vergangenen Jahr eines gelernt hatte, dann, dass ihr selbsternannter
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