Aetherhertz
erschrocken.
„ Nichts … ich meine, ich wollte ihr nur helfen! Paul, ich würde doch deiner Mutter nichts tun!“
Annabelle war ratlos. Sie sah auf ihre Hand. Rot auf Grün.
„ Du solltest das abwaschen“, sagte Paul und führte sie in ein Bad.
„ Was tun wir jetzt?“, fragte Annabelle und sah dem Blut zu, wie es in den Abfluss wirbelte.
„ Ich weiß es nicht.“ Paul war auch ratlos. Er fuhr sich nervös durch die Haare.
„ Schau bitte nach, wie es ihr geht.“
Paul nickte und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Ich bin gleich wieder da.“
Aber Annabelle wartete nicht auf ihn. Die Wucht der Verachtung, die sie unvorbereitet getroffen hatte, schwappte über ihrem Kopf zusammen und sie konnte es kaum ertragen. Sie musste hier weg!
Sie griff sich ihren Mantel und rannte in die Küche, wo sich Richard Naumann aufwärmte, während er auf sie wartete. Er war überrascht, folgte ihr aber widerspruchslos.
„ Nach Hause?“, fragte der Soldat.
„ Nein – doch – ich weiß nicht, fahren Sie einfach!“, schrie sie.
Als sie aus der Einfahrt fuhren, weinte sie.
Zuhause rannte sie schnell in ihr Zimmer und riss sich die Kleidung vom Leib. Sie konnte es keine Sekunde länger ertragen, so eingezwängt zu sein. Sie löste ihre Frisur und flocht einen festen Zopf. Dann suchte sie nach ihrem Nachthemd. Aber sie wollte eigentlich noch nicht schlafen, sie war viel zu verwirrt und aufgebracht. Sie hatte doch der Frau nichts tun wollen! Sie starrte in ihren Schrank. Ihr Reitkostüm! Reiten, Oberon! Das wäre jetzt genau das Richtige! Sie dachte nicht lange nach und verließ das Haus kurze Zeit später leise durch eine Seitentür.
Der schwarze Wallach war schläfrig und unwirsch, dass er zu so später Stunde noch mal raus sollte, aber er spürte die Aufregung seiner Besitzerin und ließ sich davon anstecken. In Windeseile war er gesattelt und sie preschte die Auffahrt herunter. Sie ritt aus Lichtenthal heraus in Richtung Wald. Es war ihr egal, wo sie landen würde, Hauptsache weg, Hauptsache schnell.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geritten war, als sie merkte, dass das Pferd eine Pause brauchte. Sie ließ Oberon im langsamen Schritt abkühlen und hielt dann an. Sie war bergauf geritten und konnte nun über die Stadt sehen. Die Lichter der Stadt bedeuteten Zivilisation, Ordnung und menschliches Treiben – der Wald hinter ihr schien sie einzusaugen mit dem Versprechen von Vergessen, Vergehen und Verschlucken. Sie fühlte den Ruf der Natur und zog die Handschuhe aus. Mit der linken Hand fasste sie an den Stamm einer Tanne und spürte diese Ewigkeit, diesen riesigen Organismus, der nicht starr, sondern fließend war, ein Netz aus Adern, die das Wasser nach oben zogen, bis in die Spitze, in jede einzelne der Millionen Nadeln, die sich an den Ästen dem Lichte entgegen reckten. Und wie Gezeiten konnte man in dem Auf und Ab wiegen und den Winter abwarten, bis die Sonne wieder Kraft bekam und man neue Triebe ansetzte.
Oberon schnaubte und sie erschrak. Sie löste ihre Hand und spürte, wie viel Kraft sie aus dieser Berührung gezogen hatte. Sie fühlte sich schwindelig ohne die Rinde unter den Fingern.
Tränen flossen aus ihren Augen, obwohl sie nicht traurig war, eher resigniert. Sie hatte verstanden, dass es nicht möglich war, sich einzufügen. Sie war ein Fremdkörper, etwas Abscheuliches, das man nicht dulden konnte. Es kam ihr ungeheuerlich vor, einen Anspruch auf Paul zu erheben. Diese Frau, seine Mutter, hatte so viel für ihn gelitten und würde ihr nie verzeihen können. Annabelle verstand vieles von dem nicht, was sie erfahren hatte, so viele Gitterstäbe, die diese Frau einengten. Allein bei dem Gedanken daran konnte Annabelle kaum atmen. Aber sie konnte kein Mitleid empfinden, weil sie niemals die gleichen Gedanken empfunden hatte.
Es wurde ihr klar, das sie immer frei gewesen war, zumindest in ihren Gedanken. Die Grenzen, die diese Frau empfand waren ihr fremd, so viele Zwänge, die kaum einen Traum zuließen.
Andererseits fragte sie sich nun, ob sie nicht selbst in einem Traum lebte. Der Traum von einem Leben mit Paul – hatte sie nicht einfach nur ihren Vater durch ihn ersetzten wollen, um weiter so unbeschwert leben zu können? Geliebt und unterstützt von einem Mann, der sie so nahm, wie sie war? Aber wie unverfroren war das? Von ihm zu verlangen, sich in ihre Welt zu begeben, wenn sie doch vielleicht gar nicht bereit war, sich in seiner Welt anzupassen? Und selbst wenn sie
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