Aetherhertz
er.
„ Ich habe furchtbare Angst“, flüsterte sie.
„ Ich weiß. Wir schaffen das schon.“
Das war auch etwas, das sie an ihm schätzte: Er versuchte nicht, die Situation zu beschönigen, stattdessen sprach er ihr Mut zu. Er trat einen Schritt zur Seite, bot ihr den Arm an, sie hakte sich unter und er führte sie ins Esszimmer, wo seine Mutter und sein Vater schon warteten.
Paul konnte es kaum glauben. Vor Kurzem noch war seine Vorstellung von Abendunterhaltung das Drehen von Schräubchen und das Löten von Verbindungen gewesen. Allein, in seinem Häuschen. Dann war Annabelle in sein Leben geweht, und er hatte sich nicht gewagt, von einem Leben mit ihr zu träumen. Heute stand er hier bei seinem Eltern mit dieser wunderschönen Frau an seiner Seite. Verdammt, er war so stolz, dass er gleich platzte! Er hätte sie aber am liebsten wieder angezogen und wäre mit ihr in die Nacht heraus geflohen, an einen einsamen Ort, um sie zu umarmen und zu küssen und ...
Nein, er würde sie nun in das Wohnzimmer führen und seine Eltern davon überzeugen, dass er eine gute Wahl getroffen hatte.
Zu Beginn des Abends erlebte er eine Überraschung: Seine Mutter und Annabelle plauderten, als ob sie sich seit Jahren kennen würden. Seine Mutter kicherte sogar zwischendurch! Sicher, sie trank etwas viel, und seines Vaters Stirn war dauernd überrascht gerunzelt über das Verhalten seiner Frau, aber Paul hatte das Gefühl, das es gut lief. Er entspannte sich.
Nach dem Dessert half er seinem Vater beim Zubereiten der Digestifs, Annabelle und seine Mutter machten es sich im Nebenzimmer bequem.
„ Sie gibt sich Mühe“, sagte sein Vater.
„ Wen meinst du?“
Peter sah ihn an und lächelte dann kopfschüttelnd.
„ Du hast recht, beide geben sich Mühe. Ich meinte deine Mutter.“
„ Ja, sie schlägt sich tapfer.“ Paul begegnete dem Blick seines Vaters und lächelte zurück. Sie beschützten beide nur ihre Frauen – es war ungewohnt, auf seiner Seite zu sein.
„ Sie ist hübsch, dein Fräulein.“
„ Du und Mama …“, fing Paul an, aber sein Vater unterbrach ihn.
„ Nein, nicht heute Abend. Ein anderes Mal.“
Paul nickte und sie gingen zu den Frauen.
Als jeder ein Glas hatte, erhob Peter Falkenberg das seine um einen Trinkspruch zu sagen: “Auf den abwesenden Professor Rosenherz – wo auch immer er ist.“
Annabelle errötete erschrocken und stieß ihr Glas wohl etwas zu fest gegen das von Frau Falkenberg. Klirrend zerbrach dieses und mit einem kleinen Schreckensschrei bückte die Hausherrin sich nach den Scherben.
„ Au!“, rief sie und hielt ihre Hand hoch. Sie hatte sich tief in den Zeigefinger geschnitten und das Blut lief schnell aus der Wunde ihren Arm herunter. Sie stand hastig auf und das Blut spritzte in rubinroten Tropfen über die weiße Tischdecke. Margarethe Falkenberg schwankte, Annabelle griff nach ihr und hielt ihre Hand, während sie sich setzte. Ihr Handschuh wurde vom Blut durchtränkt. Ohne nachzudenken, zog sie den Handschuh von ihrer linken Hand und griff nach der blutenden Extremität. Sie presste ihre Finger auf die Wunde und fühlte augenblicklich, wie sie sich zu schließen begann.
Aber sie fühlte auch Einiges andere: Sie bekam Einblick in die Seele der Frau, die Paul großgezogen hatte. Es war eine kleine Seele, ein flügellahmer Vogel, der in einem offenen Käfig in selbst gewählter Not saß. Eine Seele, die ängstlich auf die Welt außerhalb der Stäbe sah und lieber Lieder des Leidens sang, als noch einmal das Fliegen zu üben. Nun fühlte sie sich alt und überflüssig, als der einzige Mitgefangene die offene Türe nutzte, um die Welt zu erobern. Sie sah Margarethe Falkenberg in die Augen und fand Schmerz und Neid, ein grünbraungraues Mischmasch welches sich wirbelnd verfestigte und immer dunkler wurde. Sie spürte das Misstrauen, geboren aus dem Verlust des geliebten Sohnes, in dessen Leben sie bis jetzt die einzige Frau gewesen war. Das schreckliche Gefühl, ersetzt zu werden, nicht mehr gebraucht, nutzlos.
Plötzlich entriss ihr die Frau ihren Finger mit einem entrüsteten Aufschrei.
„ Gehen Sie weg! Fassen Sie mich nicht an!“, schrie sie Annabelle an, die entsetzt zurückfuhr. Ihre Finger waren klebrig von Blut. Hilflos suchte sie nach Paul.
“ Sie soll mich nicht anfassen! Ich will ihre widerlichen grünen Finger nicht an mir!“
Peter Falkenberg zog seine hysterisch kreischende Frau aus dem Raum.
„ Was hast du getan?“, fragte Paul
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