Aetherhertz
Frage. Ja, ich frage mich beständig, wie es geschehen konnte, dass mein Kind vor meinen Augen verhungert ist. Mein Engel, meine kleine süße Maus, die doch gerade erst das Leben begonnen hatte! Es ging alles so schnell.
Wir hatten sie im letzten Winter in die Gesellschaft eingeführt. Sie hatte so viele Freundinnen und Verehrer – es war wunderbar! Wir hätten nie zu träumen gewagt, dass unser Kind vielleicht sogar in Adelskreisen verkehren würde. Aber so war es, und sie wurde auf die exklusivsten Soireen eingeladen. Und wenn sie nach Hause kam, dann schwärmte sie mir vor, wen sie alles kennengelernt hatte, und sie war so glücklich und bildhübsch!“ Sie hörte auf zu sprechen und holte ein Foto. Annabelle sah eine hübsche junge Frau in einem modernen Kleid mit Blumenmuster. Alles an ihr stimmte, die Frisur, der Hut, die Haltung, dennoch war sie nur durchschnittlich schön. Frau Gerber jedoch war hingerissen und für einen Moment schwiegen beide.
„ Was passierte dann?“
„ Ich weiß es nicht. Sie begann immer öfter, mit einem bestimmten Kreis junger Damen auszugehen. Sie trafen sich in Cafés und verbrachten dort den Sommer über ganze Tage. Wenn ich sie sah, wirkte sie fiebrig und unausgeschlafen, aber sie sagte immer: Mama, hab dich nicht so, mir geht es so gut wie noch nie in meinem Leben. Aber ich glaubte ihr nicht, denn sie erzählte nichts mehr. Abends fiel sie in einen erschöpften Schlaf und am nächsten Tag sah ich sie nur, wenn sie mich um Geld bat.“ Die Frau sah wieder auf das Foto und schüttelte den Kopf.
„ Gab es einen Mann in ihrem Leben?“
Die Frau schüttelte den Kopf: “Anfangs schon. Da kamen mehrere junge Burschen und wollten mit ihr ausgehen. Später nicht mehr. Sie sagte: Mama, es ist noch zu früh! Gönn mir den Spaß! Und warum sollte ich ihr den nicht gönnen? Aber dann wurde sie krank.“
„ Haben Sie sie denn untersuchen lassen?“
Die Frau stand erregt auf. „Selbstverständlich! Wir waren bei vielen Ärzten. Sie wollte das nicht und sagte immer, es ginge ihr gut. Aber die Ärzte waren ratlos. Sie verschrieben Aufbaukuren, oder Aderlass. Wir haben Quellwasser kommen lassen, ich habe für sie gebetet.
Als dann ihre Haare ausfielen, war auch sie verzweifelt. Ich habe ihr eine Perücke gekauft. Ich war mir sicher, dass sie eine Wucherung hätte, aber niemand konnte etwas diagnostizieren. Jeden Tag ging sie aus, auch als sie kaum noch laufen konnte. Ihre Freundinnen holten sie ab. Die sahen auch nicht gesund aus – sie hatten sich die Wangen rot geschminkt, aber ich konnte sehen, dass sie auch so bleich und eingefallen waren, wie bei meiner Marie.“ Annabelle versuchte sich das vorzustellen, aber es fiel ihr schwer.
„ Was taten die Mädchen?“
„ Ich weiß es nicht. Marie erzählte nicht viel. Sie meinte, ich würde es ja doch nicht verstehen. Sie behauptete, sie würden nur im Café sitzen und Kuchen essen. Ich bin ihr einmal nachgelaufen, und es stimmte sogar. Sie saßen in einem Café, aber sie haben nichts gegessen. Sie hatten nur eine Tasse vor sich und starrten ins Leere. Sie sahen schrecklich aus. Wie Geister. Als wären sie schon tot.“
Wieder weinte sie.
„ Wofür brauchte Marie dann das Geld?“ Es war eigentlich unschicklich, dass man als Frau Geld mit sich trug. War man aus reichem Haus, hatte man Kredit, und konnte anschreiben lassen.
„ Ich weiß es nicht.“ Die Frau weinte wieder.
Hier kam Annabelle nicht weiter.
„ Darf ich mir mal Maries Zimmer ansehen?“
Die Frau nickte. Annabelle wurde in das Gemach des Mädchens geführt. Dort versuchte sie, einen Hinweis zu finden. Was könnte ihr weiterhelfen? Marie hatte einen gut gefüllten Kleiderschrank. Es gab auch allerlei Accessoires: Hüte, Schuhe, Schmuck. Auf dem Bett lagen noch einige Puppen und Stofftiere. Marie hatte einen Schminktisch und ein kleines Pult, an dem sie wohl gemalt hatte. Annabelle konnte auf den ersten Blick nichts finden, was Aufschluss über die Ursache des merkwürdigen Verhaltens geben konnte.
Um sich besser in die Bewohnerin des Zimmers versetzen zu können, setzte sie sich in einen Sessel, der am Fenster stand. Als sie sich anlehnte, spürte sie etwas Störendes in ihrem Rücken. Hinter dem Kissen des Sessels war ein Buch verborgen. Ein Tagebuch! Annabelle blätterte kurz darin. Huh, das Mädchen hatte eine scheußliche Schrift! Es war nicht leicht, etwas zu entziffern.
Was sollte sie tun? Das Buch einfach mitnehmen, oder um Erlaubnis fragen? Das war
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