Aetherhertz
heimgesucht und um zu vergessen, lebten sie unter den seltsamsten Zwängen und mit abartigen Bedürfnissen. Die meisten Bedürfnisse konnte Walter problemlos befriedigen, und so hielt er sie bei der Stange.
Als er zu dem Arzt vorgelassen wurde, erkannte er einen der Schlimmsten. Der rotwangige dünne Riese mit dem schütteren Haar hatte sich lange gegen Walter gestellt. Schließlich hatte Walter seiner Frau eine Schachtel »Herzblut« geschickt. Und dann noch eine. Und noch eine. Und dann keine mehr. Drei Tage später hatte der Arzt ihn verzweifelt angerufen.
„ Herr Hartmann“, begrüßte ihn der Arzt vorsichtig arrogant. Das würde also wieder eine Gehaltsverhandlung.
„ Wie sie sicher ahnen, geht es ihrem Bruder nicht besser.“
„ Wir hegen da wenig Hoffnung“, sagte Walter geduldig.
„ Wir haben aber eine Stabilität erreicht. Die Belastungen sind deutlich geringer geworden. Sein Gewicht bleibt konstant, er kann schlafen, seine Ausschläge sind zurückgegangen.“
Wie schön für ihn, dachte Walter gleichgültig.
„ Schön“, sagte er scheinbar erfreut zu dem Arzt.
Der nickte ernst. Er begann, sich sicher zu fühlen.
„ Dreh- und Angelpunkt ist dabei eine täglich immer genau gleiche Routine. Alle Mitarbeiter werden angewiesen, mit äußerster Vorsicht und Sorgfalt vorzugehen.“
Walter wartete. Er wusste, was nun kommen würde.
Der Arzt holte tief Luft und versuchte sich aufzurichten. Eine Schweißperle war an seiner Oberlippe entstanden, und er wischte sie mit dem Handrücken weg. Dann räusperte er sich.
Alter Arroganzling, dachte Walter. Du bist so ein kleines Licht ...
„ Sie werden sicher verstehen, dass ihre Besuche, so gut sie es auch meinen, eine Störung der Routine bedeutet.“ Das kam schnell heraus, und der Arzt war ein wenig atemlos.
„ Ich verstehe sehr viel. Leider ist es mir aber nicht möglich, Seelenruhe zu bewahren, wenn ich mich nicht mit eigenen Augen von dem Wohl meines Bruders überzeugen kann.“
„ Aber“, versuchte es der Arzt nun schon etwas verzweifelt, „er wird sich sehr aufregen!“
„ Er wird sich doch nicht aufregen, wenn sein eigener Bruder ihn besuchen kommt.“ Walter lächelte sanft. Eine Hure hatte ihm mal gesagt, wenn er so lächele, sähe er aus wie der leibhaftige Teufel.
Der Arzt wusste, dass Walter ihn nicht verstehen wollte. Er blinzelte nervös. Er konnte noch nicht aufgeben.
„ Vom medizinischen Standpunkt aus ...“, setzte er an.
„ Wie geht es ihrer Frau Gemahlin?“, unterbrach Walter.
„ Äh, gut?“
„ Bekommt sie eigentlich noch immer Pralinen geliefert? Ich habe die Übersicht über die Bestellungen verloren.“ Walter verlor nie die Übersicht.
„ Ja.“ Der Arzt schloss einen Moment lang die Augen. Er hatte verloren. Das wusste er.
„ Das freut mich. Dann haben wir ja alles geklärt. Ich möchte jetzt meinen Bruder sehen.“
* * *
Vergnügt rollte sich Annabelle aus ihrem Bett und tappte zum Fenster. Über ihrem Garten ging gerade die Sonne auf, und die letzten Blätter der Buchen leuchteten braunrot. Unter einem alten Apfelbaum lag noch Fallobst, und ein Eichhörnchen huschte behende durch den Nussbaum. Wer könnte an solch einem goldenen Herbsttag nicht glücklich sein? Annabelle wusste aber, dass noch etwas anderes sie glücklich machte. Sie hatte gestern Abend noch lange mit Paul in der Wirtschaft gesessen. Nach dem Dessert waren sie an den Kachelofen umgezogen, und hatten dem Akkordeonspieler zugehört. Es hatten sich noch ein paar Sänger dazu gesellt, die großartige Balladen aus der Gegend kannten.
Sie hatte fasziniert gelauscht, sich an den Kachelofen gekuschelt, und auch ein bisschen an Paul. Sie fühlte sich sehr wohl bei ihm und spürte, das es ihm genauso ging. Dann waren sie durch das nasse, glitzernde Baden-Baden gelaufen. Es war einer dieser Spaziergänge, die ewig dauern dürfen. Es wurde nicht viel gesprochen, und dennoch kommuniziert. Die Welt reduzierte sich auf diese Straße, diesen Moment, diese kleinste Einheit von zwei Menschen, die im Gleichklang sind. Die Gaslaternen zischten und beleuchteten kleine Inseln, durch die sie wanderten. An ihrem Zuhause angekommen, wusste Annabelle nicht, was sie tun oder sagen sollte, der Abend sollte einfach noch nicht zu Ende sein.
Als sie vor der Tür standen, hatte er ihre Hand genommen – die Rechte, ihren Handschuh ausgezogen und sie kurz zwischen seinen Händen gewärmt. Obwohl das nicht nötig gewesen war, denn Annabelle glühte wie im
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