Aetherhertz
Fieber. Dann hatte er ihr den winzigen Knopf an der Schmetterlingsbrosche gezeigt. Sie drückte ihn und der Falter schloss sich mit einem leisen Sirren. Annabelle wollte die Messinglinse von ihrem Kragen entfernen, aber Paul hatte mit dem Kopf geschüttelt.
Dann wünschte er ihr eine gute Nacht, wartete, bis sie im Haus war, drehte sich um und ging. Annabelle beobachtete ihn noch durch ein Fenster, bis seine schlanke Gestalt in den Schatten verschwunden war. Ein paar Minuten später lag sie auch schon im Bett, immer noch eingehüllt in den Zauber der Nacht. Es dauerte lange, bis sie einschlief.
Beim Aufwachen fühlte sie sich verändert. Dinge, die gestern noch wirr und unklar waren, hatten heute ihren Platz gefunden. Trotz der kurzen Nacht waren ihre Gedanken frei und sie freute sich auf den Tag. Sie huschte ins Bad und machte sich fertig. Sie hatten heute viel vor. Zum Frühstück nahm sie das Tagebuch der Maria Gerber mit, vielleicht konnte sie noch schnell etwas entziffern. Frau Barbara machte ihr einen Tee, Annabelle nahm ein Brötchen und schmierte es mit Butter und Honig.
„ Du siehst hübsch aus heute Morgen“, bemerkte Frau Barbara. „Aber zieh deinen Handschuh an.“
Frau Barbara war immer sehr darauf bedacht, dass Annabelles Makel nicht zu sehen war. Annabelle verstand das. Ihr war es noch nicht aufgefallen, dass sie den Handschuh vergessen hatte. Sie fühlte sich am ganzen Körper so lebendig, wie sie es sonst nur von ihrer Hand gewohnt war.
„ Gleich“, sagte sie. Dann fiel ihr ein, dass Paul noch nichts von ihrer Hand wusste. Sie erschrak ein wenig. Wie würde er reagieren? Wann sollte sie es ihm sagen und wie?
– Du, ich habe da eine grüne Hand und damit kann ich Dinge fühlen, die andere nicht können? – na, das hörte sich attraktiv an. Andererseits hatte Paul sich bis jetzt nicht an anderen unkonventionellen Dingen im Hause Rosenherz gestört. Vielleicht machte es ihm ja nichts aus. Hoffentlich machte es ihm nichts aus. Trotzdem wollte sie ihn noch nicht damit konfrontieren. Es würde einen geeigneten Zeitpunkt geben. Sie nahm sich vor, gleich ihre Handschuhe zu holen, aber sie musste etwas ausprobieren.
Sie öffnete das Tagebuch – mit ihrer linken Hand, um die Stimmungen der Schreiberin zu erfühlen. Das Papier fühlte sich auf den vorderen Seiten noch gelb und frisch an. Wie eine Narzisse, fest und leuchtend. Die Blätter neueren Datums wurden überschattet von einem Rot, das zunächst nur wie bei einem nassen Aquarell in das Gelb floss, später aber das Gelb übertönte und zu einem hässlichen schmutzigen Braun wurde. Es hatte etwas Zähes und Metallisches an sich. Anders konnte Annabelle ihr Gefühle nicht beschreiben. Mit der Hand fühlte sie eben so – farbig, manchmal auch wie ein Geruch, und manchmal sah sie Bilder.
Die Schrift war im vorderen Teil leserlicher, aber nachdem Annabelle sich eingelesen hatte, fiel es ihr leichter, auch die Seiten neueren Datums zu entziffern.
Maria Gerber unterschied sich nicht von den jungen Mädchen, die Annabelle kannte. Sie träumte davon, einen Mann zu finden. Sie fand sich gewöhnlich und versuchte mithilfe allerlei Accessoires schöner und begehrenswerter zu werden. Sie fantasierte in die banalsten Begegnungen mit Männern unheimlich viel hinein. Sie traf sich mit ihren Freundinnen in Cafés, um gesehen zu werden.
Dann wurde es interessanter: Sie hatten offensichtlich Zugang zu einigen Soireen gehabt, und Maria war begeistert von einem Klavierspieler namens Max. Es ging auf und ab. Maria hatte Tiefpunkte, Tage, an denen sie kaum aus dem Bett kam. Sie merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie schrieb fast nur noch, wenn es ihr sehr schlecht ging. Sie fühlte sich hässlich, ungeliebt und ausgelaugt. Annabelle erkannte nur aus den Andeutungen, dass es ihr zwischendurch wohl besser ging.
Schließlich wurde es immer klarer, dass es irgendwie nicht mehr um Männer ging, sondern um etwas anderes, was Maria begehrte. Sie schrieb: “Mama ist ungerecht. Sie muss mir das Geld geben. Ich sterbe sonst. Niemand versteht das. Wie soll ich sonst wieder gesund werden? Ich muss Geld haben, damit sie mich einlassen. Katharina mag mich, aber ich verstehe sie natürlich, sie kann es mir nicht umsonst geben. Ich werde das Geld schon bekommen. Mama muss es verstehen.“ Und später: “Heute ist es wieder so weit! Ich habe sogar etwas essen können, weil ich weiß, dass ich heute Abend wieder dabei sein werde. Ich muss mich besonders hübsch
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