Aethermagie
ihres Vaters vorgefallen war.
Kato holte tief Luft und ließ den abendlichen Besuch noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen.
Sie hatte wie immer nach dem Tee die Räume ihres Papas aufgesucht. Heute trug sie ein Buch mit Gedichten des Freiherrn von Hardenberg in der Hand, aus dem sie ihm vorlesen wollte. Ihr Vater hatte vor der Zeit seiner Erkrankung lieber die klaren und kühlen Klassiker mit ihr gelesen, aber in letzter Zeit fand er Gefallen an den düsteren, fantastischen und manchmal schwer zu entschlüsselnden Werken der romantischen Dichter. Die »Hymnen an die Nacht« hatten es ihm besonders angetan, und daraus wollte Kato heute wieder mit ihm lesen.
»Einst da ich bittre Thränen vergoß …«
, sagte sie eine Zeile daraus leise vor sich hin, als sie den vorderen Salon durchschritt und die Tür zum Schlafzimmer öffnete.
Ihr Vater saß im Lehnsessel am Fenster und lächelte sie an. »Ah, die Hymnen«, sagte er und streckte ihr die Hände entgegen.
»… da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engen, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg«
, vollendete er die zitierte Passage. »Wie schön, ich freue mich.«
Sie ergriff seine Hände und beugte sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen. »Du siehst erholt aus«, sagte sie. »Wie hast du geschlafen?«
Er nickte und deutete auf den Hocker zu seinen Füßen. »Es geht mir besser«, sagte er. »Dr. Rados war heute früh da und hat mich hypnotisiert. Das war sehr wohltuend.«
»Ich freue mich, dass er dir helfen kann«, sagte Kato und drückte seine Hand. Sie lächelte ihn an. Seine Augen waren klar, seine Pupillen hatten ihre normale Größe, sein Gesicht war müde, aber ohne die Spannung, die seine Züge sonst verzerrte. »Papa«, sagte sie impulsiv, »du solltest diese Tinktur nicht mehr einnehmen. Ich glaube nicht, dass sie dir nützt. Du bist nicht mehr du selbst, wenn du diese Arznei schluckst.«
Er senkte den Blick und erwiderte den Druck ihrer Hand. »Sie hilft mir zu vergessen«, erwiderte er matt. »Wenn ich die Tinktur nicht nehme, sehe ich all die Dinge, die ich nicht sehen darf. Es ist so quälend …« Er brach ab und fuhr sich mit den Händen in die Haare.
»Aber ich sehe sie doch auch«, sagte Kato heftiger, als sie es beabsichtigt hatte. »Und ich lasse mir deswegen nicht einreden, dass ich verrückt bin.«
»Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht? Was hältst du unter deinem Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht? Köstlicher Balsam träuft aus deiner Hand, aus dem Bündel Mohn. Die schweren Flügel des Gemüths hebst du empor.«
Ihr Vater hatte das Buch aufgenommen und las daraus vor.
Kato seufzte und zwang sich, ihm zu lauschen. Heute verursachten die Hymnen ihr ein dumpfes und unangenehmes Gefühl, wie einen Druck, der auf ihrem Herzen lastete. Ihr Vater las sie mit Inbrunst, und da er sie nahezu auswendig konnte, blätterte er nur dann um, wenn ihm ein Anschluss für den Augenblick entfallen war.
Katos Gedanken trieben davon, und sie kehrte erst dann mit einem schmerzhaften Ruck des Erschreckens in die Gegenwart zurück, als sie ihren Vater Worte sagen hörte, die nicht der Feder des Freiherrn von Hardenberg entsprungen waren: »Sie leuchten und jammern, sie weinen und singen und schimmern und fluten und würgen mich, sitzen auf meiner Brust wie Nachtmahre und starren mich an, flüstern mit ihren schrecklichen Stimmen, greifen mit Flammenhänden nach mir …« Sein Gesicht war bleich und sein Blick wanderte ruhelos von einer Zimmerecke in die andere, während seine Hände sich krampfhaft in den Stoff seines Hausmantels krallten.
»Papa«, rief Kato und beugte sich vor. Sie griff nach seinen Schultern und schüttelte ihn sacht. »Ich bin es, deine Kato. Sieh dich um, es ist still und ruhig, nichts und niemand will dir etwas Böses.«
Sein Gesicht nahm für einen Moment wieder den vorherigen klaren, friedlichen Ausdruck an. »Katharina«, sagte er. »Natürlich, mein Liebes. Alles ist gut.«
Sie atmete erleichtert auf, bis er fortfuhr: »Du solltest es nicht dulden, dass sie in deinen Haaren sitzen. Soll ich sie für dich verscheuchen?« Und mit diesen Worten fing er an, mit schnellen, leichten Klapsen auf Katos Kopf und Schultern einzuschlagen, als müsste er Glutfunken löschen, die sich dorthin verirrt hatten und nun drohten, sie in Brand zu setzen. Seine Augen waren groß und dunkel, sein Blick starr wie der eines jagenden
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