AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
strengen Gelübde abzulegen und ohne „den Schleier zu nehmen“. Frauenklöster haben im 12. Jahrhundert nicht viel mit Frömmigkeit und selbstbestimmter Entscheidung fürs Klosterleben zu tun. Sie bieten alleinstehenden Frauen, Töchtern ohne Chance auf eine „gute Partie“, Verstoßenen eine gewisse materielle Sicherheit und den Schutz der hohen Klostermauern. Sie sind Fluchtorte. Heloisa lässt an ihrer Haltung keinen Zweifel: „Nicht Frömmigkeit, sondern dein Befehl allein hat mich in blühender Jugend zur Düsternis des Klosterlebens hingezogen.“
Doch Abaelard sorgt mit seinen Besuchen für gelegentliche Erleuchtung im Nonnen-Alltag. In seinem vierten Brief – Jahrzehnte später an die Äbtissin gerichtet – denkt er an eine innige Begegnung mit Heloisa zurück: „Als wir unseren Ehebund schon geschlossen hatten und Du in Argenteuil bei den frommen Schwestern im Kloster weiltest, da kam ich – Du erinnerst Dich daran – eines Tages heimlich zu Besuch. Du weißt es noch, was ich bei diesem Besuch in meiner gierigen Unbeherrschtheit mit Dir begangen, in einer Ecke des Refektoriums begangen – wir hatten ja sonst keinen Raum, in den wir uns zurückziehen konnten. Du erinnerst Dich noch, welch schändliche Dinge wir an diesem ehrwürdigen Ort trieben, der unter dem Schutz der heiligen Mutter Gottes steht. Auch wenn sonst nichts vorfiel, das allein rechtfertigte eine noch viel strengere Ahndung.“
War das Klosterleben für die Geliebte lebenslange Strafe, büßte der Gelehrte mit einem schmerzhaften Einschnitt.
Abaelard kommt nach Paris zurück, lehrt weiter an der ehrbaren Domschule. Fulbert sinnt auf Rache. Die Nichte – in manchen Erzählungen wird behauptet, Heloisa sei in Wahrheit seine Tochter gewesen – entehrt, geschwängert, gegen den Willen des Vormunds verheiratet, ins Kloster verbannt. Abaelards Diener wird bestochen. Er verrät seinen Meister. Zwei Stierschneider schleichen sich in die Schlafkammer des Gelehrten. Sie packen ihn, halten ihn fest und mit sicheren Schnitten entmannen sie den Geliebten Heloisas. In seiner „Historia Calamitatum“ beschreibt Abaelard den brutalen Überfall: „Sie beraubten mich der Körperteile, mit denen ich begangen hatte, worüber sie klagten.“
Wie Abaelard die qualvolle Verstümmelung überlebt, wie der Blutverlust gestillt, die Wunde behandelt wird, darüber schweigt er selbst. Der Anschlag wird zum Stadtgespräch. Die Rechnung Fulberts geht nicht auf. Der angesehenste Intellektuelle der Stadt wird zum Märtyrer, nicht zum Gespött. „Als es Tag wurde, strömte die ganze Stadt vor meiner Wohnung zusammen, und in welchem Entsetzen sie erstarrte, in welchem Jammer sie sich verzehrte, mit welchem Geschrei sie mich quälten, mit welcher Klage erschütterten.“
Die beiden Täter werden rasch gefunden und nach kurzem Prozess gleichsam reziprok entmannt und als Draufgabe geblendet. Gegenüber dem Anstifter legen die Behörden erstaunliche Milde an den Tag. Kanonikus Fulbert wird zwar kurzzeitig verhaftet, sein nicht unbeträchtliches Vermögen eingezogen, aber nach einem Jahr wird der einflussreiche Mann begnadigt.
Abaelard ist tief verletzt und gedemütigt. In der Logik des Mittelalters kann er seine Lehrtätigkeit nicht mehr aufnehmen. Er muss in einem Kloster Schutz und Zuflucht suchen und tritt in die Abtei Saint-Denis ein. Auch Heloisa soll der Weltlichkeit endgültig entsagen. Er überredet seine Geliebte und Ehefrau, „den Schleier zu nehmen“. Sie fügt sich, wider Willen und unter Protest. „Traust Du mir nicht? Hast Du Angst, ich könnte in die Welt zurückgehen?“ Vielleicht war es so, wie Heloisa argwöhnte. Die Freuden, die Abaelard jetzt nicht mehr genießen konnte, wollte er keinem anderen vergönnen. Er – ein kastrierter Mann, sie – eine zur Enthaltsamkeit verdammte Ordensschwester. Doch Abaelard bleibt nicht lang in Saint-Denis. Seine geistige Überlegenheit und sein herausragender Intellekt machen es ihm unmöglich, sich in eine egalitäre Ordensgemeinschaft einzufügen.
Abaelard nimmt seine Lehrtätigkeit wieder auf, wird aber zunehmend von der Kirchenhierarchie angefeindet. Auf dem Konzil von Soissons muss der Scholastiker seine Schrift „Theologia Summi Boni“ eigenhändig ins Feuer werfen. Es ist wieder eine Niederlage. Abaelard hat tatsächlich geglaubt, mit Argumenten, geschliffenen Worten und seiner Vernunft gegen die Machtstrukturen der Kirche zu obsiegen. So viel Unabhängigkeit (und Anmaßung) war nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher