Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
blinzelte himmelwärts. „Er lauert nur auf das Signal“, sagte er zu der Reporterin. „Die Libellen sind ständig in der Luft. In Minutenschnelle können sie eingreifen.“
„Warum melden sie aus der Höhe nicht die Geschützpositionen nach unten?“ fragte die Journalistin. „Sie müssen jedes einzelne abgefeuerte Geschoss deutlich ausmachen.“
„Von da oben sieht die Erde aus wie eine kochende Lavasuppe, aus der hie und da eine glühende Blase aufbrodelt, um sogleich wieder in die furiose Masse abzutauchen, Ma´am.“
Die Reporterin senkte die Augen und half einer Ameise mit einem Grasstängel aus einer sandigen Mulde heraus.
Sie lagen direkt vor einer kegelförmigen Wacholderkuppe, die sich nicht von der unterschied, von der sie gekommen waren. Die Pioniere hatten vergeblich die Minensuche fortgesetzt, verzweifelt drangen sie mit den Spitzen ihrer Sonden bis zwei Meter weit ins Gebüsch ein, weiter wagten sie sich nicht vor. Sie waren hundemüde, ihre Uniformen starrten vor Staub und waren an etlichen Stellen von den scharfen Graten des Gesteins zerschnitten. Beinahe jeder hatte sich tiefe Schürfwunden zugezogen, die Insekten anlockten. Je höher die Sonne stand, desto mehr Mückenschwärme stürzten sich auf die Männer und setzten sich auf den Kühlung versprechenden Schweiß der Gesichter, Handrücken und Unterarme.
Alle verspürten Angst, ein Gefühl, das im Allgemeinen bei Menschen nach einem eben erst überstandenen schweren Kampf nicht abgestumpft war, sondern im Gegenteil sich noch verstärkte. Stumm lagen sie da, hatten keine Lust zum Reden, wollten nur eins: Dass es so bald wie möglich zu Ende war, dass es sie nicht erwischte und dass sie schnellstmöglich wieder wegkonnten. Das weißgesprenkelte Steinfeld, zerfurcht und zerkratert von Granateneinschlägen, sah nicht einladend aus.
Der Reporterin sackte der Kopf auf die Hände, die das Sandührchen ihres Geliebten umschlossen, erschöpft fiel sie sogleich in einen komaähnlichen Schlaf.
42 Anicas Sommer-Winter-Traum
Ihr Gehirn durchzog der lange, gleichförmige Sommer-Winter-Traum, der sie im Gegensatz zu dem Traumgesicht von dem mehrköpfigen Un-Tier ausschließlich im Schlaf unter freiem Himmel überkam. Sie geht bei Gluthitze durch einen Mischwald, sie weiß und fühlt, dass es Sommer und entsetzlich heiß ist, doch das Gehen fällt ihr äußerst schwer, weil den Waldboden hoher Schnee bedeckt. Aber das wundert sie nicht. Nur das Vorwärtskommen ist mühselig. Immer wieder sinkt sie in den Schnee ein, und es will ihr schließlich nicht mehr gelingen, die Beine herauszuziehen. Mit einer Hand schützt sie sich vor den grünen Zweigen, die ihr ins Gesicht peitschen. Sie ahnt, dass weit vorn hinter dem Wald das Drinatal liegt, und wenn dieses Gefühl auch unklar bleibt, so empfindet sie es doch als beruhigend, den Fluss dort zu wissen. Sie weiß, wenn sie dorthin gelangt, wird mit einem Schlag alles gut. Doch auch die Zweige behindern sie und schlagen ihr ständig schmerzhaft auf die Hand. Jedes Mal wenn sie nach vorne sehen will, ob denn hinter den Ästen noch immer nicht die Drina zu erkennen sei, vermag sie nichts zu sehen wegen ihrer Hand, die dauernd vor ihren Augen schwankt. Das macht sie wütend, und immer wieder aufs Neue versucht sie, nach vorne zu blicken, über die Hand hinweg, doch will es ihr nicht gelingen. Lediglich der Himmel über ihr ist azurblau und frei, doch als sie länger zu ihm aufschaut, erblickt sie weit oben einen Punkt, der näher kommt und sich als überdimensionierter Daumen entpuppt, er vergrößert sich beängstigend, herzbeklemmend und droht sie schließlich zu erdrücken...
Anica lag flach auf dem Bauch in einer Kuhle, den Kopf auf den Arm gelegt; die Sanduhr war ihr aus den Händen geglitten auf ein dürres Grasbüschel. Kurz bevor der erdrückende Daumen sie berührte, schlug sie die Augen auf und sah etwas vor ihrem Gesicht, ein außerordentlich bewegliches Lebewesen, ein Insekt vielleicht oder ein Weichtier, das sich in den Schattenstrichen der Grashalme bewegte. Es hatte eine kugelige Gestalt, sein mittlerer, glänzend blauer und feuchter Körperteil war von einem Saum kleiner Härchen eingefasst, die einer weichen, lederartigen bräunlichen Schale entsprossen, von Rissen durchfurcht, mit buckligen Geschwülsten bedeckt. Eine geradezu erschreckende Lebendigkeit beseelte dieses filigrane Wesen, und im Bruchteil eines Augenblicks, noch ehe das Gesehene gedankliche Gestalt annehmen konnte, war ihr
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