Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
von Todesangst und Kampferwartung ablenken konnte.
Anica zwang ihre Gedanken nicht in eine konkrete Richtung. Sie dachte, was ihr gerade in den Sinn fiel, doch ihre Gedanken lösten einander ab, drängten sich gegenseitig beiseite, als fürchte sie, dass sie nicht mehr dazu kommen könnte, an all das zu denken, woran noch gedacht werden musste. Bei allem, was geschah, konnte niemand vor sich selbst davonlaufen. Gedanken an das eigene Leben machten sich in ihrem Kopf breit, in dem das eine auftauchte und das andere nicht weichen wollte. Wer weiß, wie alles weitergehen würde...
In erster Linie war sie mit ihren Gedanken bei Dragan. Ob er ahnte, wo sie steckte und was sie trieb? Sie wünschte, dass er es wüsste. Sie umschloss mit zusammengeballter Faust das Sandührchen in der Jackentasche. Gegen ihren Willen überkam sie ein beklemmendes Gefühl der Zärtlichkeit für ihn, so dass sie, über die Kraft ihrer Gedanken erschrocken, diesen Ausbruch in sich sogleich unterdrückte und halblaut schimpfend vor sich hin murmelte. Die Männer warfen ihr erstaunte Blicke zu.
Als der Trupp nach beendeter Rast an eine der zahlreichen Kuppen gelangt, die einen stacheldurchrankten Wacholderbestand aufwiesen, verhielt man an seinem Rand und nahm Deckung.
„Warum benutzen wir das Gebüsch nicht als Sichtschutz“, fragte Anica, „indem wir hineinkriechen?“
„Sie sind doch eine blutige Anfängerin“, höhnte der Oberleutnant, wandte sich an den Corporal. „Sag´s ihr!“
„Zecken und Giftstacheln, Ma´am“, erklärte Nymiah. „Na, wenn das nichts ist!“
„Ach so“, stieß Anica, noch keuchend, hervor, denn der steinübersäte Boden hatte ihr den Atem genommen, sie zum Stolpern gebracht, „na, es war nur so eine Idee von mir... Wohl keine besonders gute...“
Beim Weitermarschieren hörte man die Stiefelabsätze auf die harten Steine prallen, die manchmal absplitterten, in anderen Fällen in versandete Stellen einsanken, wo die Geschäftigkeit großer Ameisen ein passendes Abbild der Vergeblichkeit so vieler menschlicher Mühsal abgab.
Die Journalistin strauchelte über die niedrigen Zweige eines Busches, den Dürre und Wind nicht daran gehindert hatten, Blüten zu entfalten; goldene, hartschalige Disteln neben grauen, behaarten Überbleibseln ihrer einstigen Pracht.
Vor ihnen dehnte sich fast über einen Kilometer nacktes Gelände, und die Sonne backte die Erde knochenhart und brachte das Felsgestein schier zum Glühen, flirrende Heißluft stieg wie Bläschen in kochendem Wasser zum Himmel auf.
Der Oberleutnant wies auf das freie Gelände, das rechts von ihnen offen unter dem Hitzeflimmern dalag. „Das ist unser Abholplatz“, erklärte er. „Zwei Stunden, ehe die Sonne am Horizont verschwindet, werden wir von den Hubschraubern wieder aufgenommen.“
Anica sah nach Westen. Der Horizont, das war der langgestreckte Gebirgskamm, der jenseits des Mittelpunkts im Talkessel, dort wo die gefallene Enklave lag, aufschwoll. „Wie weit marschieren wir noch?“ wollte sie wissen.
„Kaputt?“ fragte der Oberleutnant. Er deutete zu einem Gipfel. „Am Fuß des Berges verläuft ein Gebirgsbach, wo wir auf die anderen Einheiten treffen. Zwischen hier und dort bis ins Zentrum des Talkessels stecken die Kerle.“
„Die serbischen Freischärler?“
„Das ist Inkslinger-Slang“, entgegnete der junge Offizier, sah auf die Uhr. „Schreiberseelengeschwätz. Das sind kommunistische Terroreinheiten, Madam! Gleich beginnt der Tanz.“
Sie unterdrückte den Protest, den sie in sich aufkeimen fühlte, riss eine der quastenförmigen Blüten von einem knorrigen Zweig und musterte sie. „Ich würde gerne wissen, wie diese merkwürdige Dolde heißt. Vielleicht findet sich ja jemand, der mir das sagen kann.“
Der Oberleutnant hob verständnislos einen Augenbraue und wechselte per Sprechfunk einige Worte mit den Nachbareinheiten, hob schließlich den Arm. Die Soldaten zogen tief geduckt aus der Sicherheit der Wacholderdeckung. Der Offizier hatte an der Buschgrenze die leichten Maschinengewehre in Stellung bringen lassen, die die gesamte Fläche über die Kuppen bis hin zum gegenüberliegenden Gebirgssockel bestreichen konnten. Doch nicht ein einziger Schuss löste sich, als die Soldatenkette über die glühende Erde huschte. Hier zeigte sich die perfekte Tarnwirkung ihrer hellbraunen Uniformen, selbst die Gewehre muteten an wie im heißen Wind schwankendes totes Astwerk. Große schwarze Vögel kreisten schreiend im rasenden
Weitere Kostenlose Bücher