Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
in ihren Ohren, und vor ihrem inneren Auge sah sie sich im Wald stehen, umringt von tanzenden nackten Männern, die sich ihr mit buntgefiederten Speeren näherten, sich an sie schmiegten. Dragan war der größte, der schönste von ihnen, und wie ein Funkenregen drang seine Stimme in jede Faser, jede Pore ihres Leibes ein...
25 Krieg im Hotel
„Clear to take off“, rief Dragan.
Die Frachtmaschine war neu beladen worden. Der Sarg hatte längst – von Anica unbemerkt – seinen abschließenden traurigen Weg genommen. Und bald hatte das Flugzeug die Front überflogen und näherte sich nach dem Zeitplan Sarajevo. Die Nacht war windig, der alte Transportclipper wurde hin und her geworfen. Immer wieder tauchte er in Wolken ein. Unten breitete sich fast undurchdringliche Finsternis aus. Städte und Dörfer waren verdunkelt, die Bevölkerung war auf Bombenangriffe aus der Luft seit langem vorbereitet, und nur einige Male hatte Anica durch das Cockpitfenster tief unten Lichter blitzen sehen. Einmal waren es etliche, eine ganze Girlande. Sie dachte zuerst, es sei ein Dorf.
„UN-Fahrzeuge auf der Passstraße“, erklärte Dragan, als könne er Gedanken lesen.
„Da wären wir dann wieder“, sagte Anica seufzend und überlegte, dass sie weiter Antworten suchen musste auf Fragen wie: Warum ist es der Menschheit nicht gelungen, Terror, Krieg und Folter ebenso auszurotten wie zum Beispiel die Pest? Welche Ursachen haben religiöse und politische Intoleranz? Was liegt der Verfolgung Andersdenkender tatsächlich zugrunde?
Auf dem Weg ins Hotel passierten sie viele total zusammengeschossene Häuser, keines war ohne Granateinschläge. Hunderte von Flüchtlingen säumten die Straßen, als sie vorbeifuhren, viele von ihnen verwundet. Kinder lachten und schrien, die Alten schauten mit dieser stummen Duldung des Elends zu, die so viele Ausländer in Sarajevo verlegen machte und gewöhnlich als Gleichgültigkeit missdeutet wurde. Doch die jüngeren Männer und Frauen sahen die Fremden wie so oft mit unverhohlener Verachtung an und zogen ihre springlebendigen Kinder von der Straße herunter.
Plötzlich begannen überall im Viertel die Hunde anzuschlagen. „Alle Köter drehen durch“, sagte Dragan. „Bellen wie verrückt.“
„Hunde-Radar?“ fragte Anica.
Sie waren froh, als sie das Hotelzimmer erreichten. Ein riesiger Blitz zuckte vor dem Fenster über dem westlichen Teil der Stadt. Der Himmel glühte so rot, als sei die Sonne zurückgekehrt, um noch einmal unterzugehen. Ketten von gelben Lichtern zogen sich quer über den Horizont, der aussah, als hinge ein riesiger Kronleuchter darüber.
Anica ging vorsichtig zum Fenster und richtete eine ihrer Kameras aus. Das Vier-Draht-Telefon summte einladend. Sie tastete nach dem Mikrophon, unverwandt aus dem Fenster starrend. „Hier Sarajevo, hier Sarajevo, bitte kommen“, rief sie und fingerte nervös an einem Schalter herum. In Hamburg hatte man ein Interview mit dem früheren Verteidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt unterbrochen und Sarajevo live auf Sendung geschaltet.
„Der Himmel über Sarajevo ist taghell“, setzte die Reporterin an. „Überall zucken grelle Blitze auf am Himmel... wie ein gewaltiges Feuerwerk... Leuchtspurmunition brennt gleißende Bögen in die Nacht...“
Dragan trat zu ihr ans Fenster, und in diesem Augenblick ging das Licht aus, sie standen in stockdusterer Finsternis, die Verbindung mit Hamburg brach zusammen. „Mist!“ schimpfte Anica, „vor unseren Augen geht die Welt in Flammen auf, und wir können nur dastehen und zusehen.“
Der infernalische Orkan von Blitzen nahm kein Ende. Anicas Glieder schlotterten vor Angst, doch trotz allem konnte sie sich dem psychedelischen Zauber des farbenprächtigen Menetekels nicht entziehen.
Unvermittelt begann das Licht zu flackern, das Notstromaggregat von CNN tat seine Schuldigkeit. Die Journalistin beugte sich aus dem Fenster und blickte in die Nacht hinaus, während sie fortfuhr, pausenlos in das Mikrophon zu sprechen, das sie mit einem Verlängerungskabel an das Übertragungsgerät angeschlossen hatte.
„Hallo, Hamburg. Hier spricht Anica Klingor in Sarajevo. Ich weiß nicht, ob Sie mich hören können, aber ich werde so lange weiterreden, wie es mir möglich ist.“
Dragan hatte rasch neue Batterien in das Ü-Gerät eingelegt. Das gelbe Kontrolllämpchen brannte, doch Hamburg hatte die Verbindung noch nicht bestätigt.
„Es ist ein mordsaktives Feuerwerk: Grell aufleuchtende
Weitere Kostenlose Bücher