Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Vorkommnisse. Der Moslemüberfall ist nach unseren Feststellungen gestern in den frühen Morgenstunden erfolgt. Wegen des Feiertags...“, hier las der Major vom Blatt, „...Mariä Himmelfahrt war niemand auf den Feldern. Einschließlich der Kinder liegen neunundachtzig Leichen im Dorf. Unterschiedlichste Todesursachen. Besonders bei den Frauen. Nachricht von dem Massaker erreichte uns gegen Mittag des vergangenen Tages. Bauern meldeten hochaufsteigende Qualmwolken über Obaljak. Auf Widerstand stießen wir nicht mehr. Alles wurde in dem Zustand vorgefunden, wie Sie es jetzt sehen. Für die Besichtigung haben wir eine Stunde anberaumt. Aufnahmen können von Ihnen beliebig gemacht werden. Wenn Sie mir also folgen wollen...“
Er machte auf dem Absatz kehrt, schritt voran. Die Reporterschar folgte ihm grüppchenweise. Zudeck-Perron, mit mürrischer Miene, schloss sich Anica an, stapfte neben ihr her dorthin, wo die Lehmkaten dicht an dicht standen.
„Mir will das nicht in den Kopf“, sagte die Journalistin, „gerade haben sich die Kroaten mit den Moslems brüderlich vereint gegen die Serben...“
„Auf mehr oder weniger gelinden Druck vom amerikanischen Präsidenten...“, warf Zudeck-Perron ein.
„Ganz richtig. Und gleich zu Beginn dieser Zwangsfreundschaft ertappt die kroatische Seite ausgerechnet die Muslime bei einem Massaker dieses scheußlichen Kalibers.“
Zudeck-Perron zuckte mit einem zugekniffenem Auge die Achseln. Was er im Sucher seines Fotoapparates sah, ließ die Gespräche der Presseleute jäh verstummen. Lange Zeit surrten nur TV-Camcorder, klickten die Verschlüsse der Fotoapparate, prasselte Blitzlichtgewitter in jeden dunklen Winkel, lediglich ab und zu unterbrochen von dem einen oder anderen Fragesteller, der sich an den Major wandte. Der Offizier antwortete jeweils kurzangebunden, dann und wann stotternd und wenig freundlich. Auffallend war seine Stimme, stark klingend und brüchig zugleich, als klaffe nicht so sehr in der Stimme, sondern mehr in dem Menschen selbst ein unsichtbarer Riss.
Eine Zumutung, dachte Anica, der Offizier und das Grauen, das sich den Menschen hier bietet. Nur was heißt das schon: Zumutung? Den Menschen im Krieg – den Militärs, den Zivilisten, den Medienleuten – nichts zuzumuten, bedeutete oftmals, sie keiner sinnlosen Bedrängnis und keiner unvorstellbaren Barbarei auszusetzen, sie jedoch ohne Zögern einer unabwendbaren Gefahr und unerträglichen Brutalität entgegenzuwerfen; nun, dann wäre der Krieg kein Krieg. Lediglich das Maß dieser – wenn man recht hat – tatsächlichen und – falls man sich irrt – vermeintlichen Unumgänglichkeit liegt auf den Schultern und auf dem Gewissen der Machtausübenden. Im Krieg gibt es kein Casting und keine Einstellproben wie im Film, wo erst einmal versuchsweise, übungshalber gespielt wird, bevor es dann tatsächlich ernst wird. Krieg schreibt alles sofort mit Blut, alles von Anfang bis Ende, vom ersten Federstrich bis zum abschließenden Punkt. Wer seine Machtbefugnis missbraucht, vergießt Blut; wer sie nicht im entscheidenden Augenblick nutzt, vergießt ebenfalls Blut, ob an der Front oder in irgendeinem Hauptquartier inner- oder außerhalb des Landes. Wie groß darf Machtbefugnis sein, die ja nie direkt von den vorgesetzten Machthabern oder gar im Nachhinein vom Kriegsgericht oder Tribunal festgelegt und ausgeübt wird, sondern von dem subalternen Kommandeur vor Ort in dem Moment, wenn er den Befehl erteilt. Die verantwortlichen Vorgesetzten gehen in erster Linie von Erfolg oder Misserfolg aus, nicht aber davon, was der Befehlserteiler, geschweige denn der Befehlsempfänger gedacht oder empfunden hat, als er seine Machtbefugnis überschritt beziehungsweise sie nicht nutzte.
Anica sah die sterblichen Überreste der Dorfbevölkerung liegen inmitten der Brandstätten: aufgeschlitzte und verstümmelte Leiber, ermordete Mütter mit ihren in ihren Armen erschossenen Babys, Kinder mit zertrümmerten Schädeldecken, teilweise entkleidete Frauenkörper, die Spuren entsetzlicher Torturen aufweisen. Fliegenschwärme umschwirrten und bedeckten Blutlachen und Fleischwunden. Etlichen der Massakrierten waren Halbmonde in die Haut gebrannt oder geritzt worden. Manche hatte man an die niedrigen Äste der Obstbäume geknüpft und als Zielscheibe genutzt. Auf die Überbleibsel der niedergebrannten Behausungen waren Schlagworte in lateinischen Großbuchstaben sowie arabisch anmutenden Schriftzeichen gemalt worden. Der Major
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