Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
bewiesen werden. Sie verfügte über die technische Hardware und die persönlichen Eigenschaften dazu. Diese entsetzenerregende Kampagne gegen Aufdeckung abzusichern, war Mühe aufgewendet worden. Überlebende im Dorf hatte es nicht gegeben. Die Methode, eine vorgetäuschte Sachlage unbestreitbar zu machen, schien perfekt, wenn man von dem kleinen Fehler absah, dass sie die Moslem-Losungen über die verkohlten, noch von Löschwasser durchtränkten Balken gepinselt und natürlich nicht mit einer kriminalistisch vorbelasteten Journalistin gerechnet hatten. Was einen vielleicht in die Lage versetzt, die Wahrheit aufzudecken, dachte Anica. Dann musste man sie nur noch unter die Leute bringen. Ich muss auch mit Raif darüber sprechen, nahm sie sich vor.
27 Ein Keller voller Leichen
Auf dem Weg zu den Hubschraubern hätten sie der Karte zufolge auf das Nachbardorf stoßen müssen. Es war eingezeichnet, aber nicht mehr existent. Nur ein paar Keller fand Anica vor, einer davon vollgestopft mit Skeletten Massakrierter. Da, wo früher ein ganzes Dorf gestanden war, ragten nurmehr hier und dort Schornsteine auf. Ein einziges Haus war übriggeblieben, vielleicht weil es aus Ziegeln gebaut war und die anderen aus Holz. Möglicherweise waren aber auch die anderen aus Ziegeln gewesen, und trotzdem war nur dieses eine nicht zerstört worden.
Wie bei den Menschen, dachte Anica, manches Mal fallen im Krieg alle ringsum, jedoch einer allein bleibt am Leben.
Sie ging auf das Haus zu, Kleiderfetzen bedeckten den Boden und Blutspuren führten zum Eingang. Innen türmten sich Leichen. Wie viele Tote in dem Haus lagen, war unmöglich festzustellen. Die Journalistin zückte den Camcorder, um die Szene zu dokumentieren. Während des Schwenks über den Leichenberg verhielt sie bei einem Körper, der – die Hände vorgestreckt – wie kriechend auf dem Bauch lag. So, wie ihn der Tod ereilt hatte, dachte Anica. Auf seinem rasierten, staubbedeckten Nacken war ein dunkler Blutfleck zu sehen. Auf dem Bauch einer Leiche vor seiner rechten Hand lag, von der Kugel fortgeschleudert, sein Stahlhelm. Plötzlich, völlig überraschend und bestürzend, begannen sich seine Finger zu bewegen. Anica schrak heftig zusammen, nahm jedoch sofort vorsichtig die Hand und spürte, wie der Puls, gleichsam weit entfernt, kaum merklich schlug. Unwillkürlich tastete sie weitere Hände um sie herum ab, doch alle waren eiskalt. Nur diese eine war – ein wenig – warm; sie kehrte zu ihr zurück, streichelte sie und bemerkte, wie der Schwerverwundete die Augen auftat, lebendige und tief eingefallene Augäpfel, die nach unten starrten und bei Anicas Berührung schwach zitterten.
„Sestra, draga, sestra“, ließ der Mann flüsternd verlauten.
Warum sagte er „liebe Schwester“? Er konnte sie nicht sehen und sprach doch so. Da ließ die Reporterin die Hand nicht los, sondern zwang sie zu verweilen, wo sie lag.
„Da, dobar muskarac“, stammelte sie verstört. „Ja, guter Mann, was ist mit Ihnen?“
Er antwortet nicht, wiederholte nur: „Sestra, draga sestra.“
„Was ist denn?“
„Draga sestra“, seufzte er noch einmal und verstummte. Sein offenstehender Mund verriet, dass er noch etwas sagen wollte.
„Was hast du denn, mein Guter ?“ fragte Anica geduldig. „Ich höre ja.“
„Draga sestra“, setzte er erneut an und fuhr nach einer kleinen Weile mühsam flüsternd fort: „Ich sterbe. Können Sie nicht meinen Namen notieren? Den Namen...“
Die Reporterin nickte, drückte sanft seine Hand. „Mein Gott, natürlich! Wie heißen Sie denn?“
„Sestra, draga sestra...“, seufzte der Mann.
„Ja, mein Lieber?”
„Ich..., ich...“
Doch seine Kraft reichte nicht, seinen Namen zu sagen oder er hatte ihn vergessen. Seine Lippen murmelten etwas, fast tonlos, nicht zu verstehen. Noch einmal murmelte er, und wieder verstand Anica nichts; sie sah nur, wie einzelne Tränentropfen aus seinen Augen quollen. Sie wunderte sich, dass dieser Mann, der offensichtlich nichts mehr vermochte, doch noch weinen konnte.
„Gebt mir... Wasser zu trinken“, stöhnte er unvermittelt auf, „und bringt mich dann um.“
Sinovic reichte ihm seine Feldflasche mit den Worten: „Niemand krümmt dir ein Haar.“
„Du lieber Gott“, rief Anica leise aus, „was haben sie bloß mit Ihnen gemacht?“
Der Mann verschluckte sich, und nach einem quälenden Hustenanfall presste er mühsam heraus: „`Dreht euch um´, haben sie uns gesagt, `und stellt euch dazu!´
Weitere Kostenlose Bücher