Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Dann: `Hinlegen!´ Und in dem Moment warfen uns ganze Salven nieder. Als das Gewehrfeuer aufhörte, fragte einer mit Camouflage-Uniform: `Ist noch irgendwer am Leben?´ Und zwei haben geantwortet. Einer sagte: `Ich´ und ein anderer sagte: `Ich, komm und töte mich!´. Ich selbst blieb stumm. Wenn es sein muss, würde ich ihnen später zeigen, dass ich noch am Leben bin, dann könnten sie mich immer noch umbringen. Sie karrten weiter eine Reihe nach der anderen herbei. Ich lag auf der Erde. Sie haben noch etwa sechs Reihen Männer hergefahren; unterhalb von da, wo ich lag, wurden die aufgereiht, und das Gewehrfeuer mähte sie alle weg. Eine Kugel traf mich am Ellbogen und eine am Kopf, aber es wurde nur meine Haut gestreift, während sie die anderen erschossen. Erdfetzen sind herumgeflogen, von den Geschossen. Ich konnte hören, wie Kugeln in Körper eingeschlagen sind, und die Erdstücke, die herumflogen, Steine auch, auf meinem Rücken, Staub überall, das kann ich alles fühlen, denn ich hatte ja nur ein Hemd an. Alle machten sie nieder, schlachteten sie ab. Dann ist wohl einer auf mich gefallen und ich weiß nichts mehr...“
„Wie ist Ihr Name?“ fragte Anica wieder.
„Draga sestra“, seufzte der Mann, „draga sestra.“
„Wie heißen Sie, guter Mann?“ setzte Anica noch einmal behutsam nach. Doch es war nichts mehr aus dem Mann herauszubekommen außer: „Draga sestra, draga sestra...“
„Gehen wir“, sagte Major Sinovic, sie von hinten bei den Händen nehmend. „Man wird sich um ihn kümmern.“
Anica schüttelte sich angewidert los, trat vor ihm ins Freie, kniff die Augenlider zusammen vor der gleißenden Helligkeit. Ihr Blick fiel auf ihre Hände, die den Camcorder hielten, Läuse wibbelten und kribbelten über die Haut und krochen über das Kameragehäuse. Und während sie sie abzustreifen versuchte, sah sie, wie der Major Läuse von seinem Ärmel abschlug.
„So sieht es also aus“, brummte er mit angewidertem Gesichtsausdruck beim Weitergehen und zwirbelte die Schnurrbartenden.
Jedenfalls sieht es so aus, sagte sich die Journalistin, als würdest du dein Leben lang die Menschen nicht vergessen können, mit denen dich das Schicksal zusammengeführt hat, zumal du möglicherweise bald weggehst und nicht zu ihnen zurückkehrst. Aber das hast du früher auch schon oft gedacht. Manches bleibt dir zwar wirklich im Gedächtnis, anderes wird jedoch von dem verdrängt, was darauf folgte. Heute dieses also, gestern jenes, und morgen wird etwas anderes sein. Bemerkst du eigentlich noch, wann ein Wechsel eintritt? Nicht etwa, weil du die teuren Erinnerungen vergessen oder dich von ihnen losgesagt hättest, sondern weil das eine Kriegserlebnis das andere überschattet. Das heutige überschattet das gestrige. Gestern, heute, morgen. Jeweils ganze vierundzwanzig Stunden. Eine winzige Größe. Vor allem vom Standpunkt aus der großen Politik und der Oberbefehlshaber. Vom eigenen Standpunkt aus und dem der Menschen, mit denen du gemeinsam das alles erlebst, ist Heute alles, was unser Leben ausmacht. Du magst dich gar nicht mehr davon trennen. Weder wenige Dutzend Menschen noch ein einzelner können sich als eine unendlich winzige Größe empfinden. Du magst dich selbst als eine solche betrachten. Fühlen aber kannst du das nicht, denn so klein du auch bist und so groß die Welt auch ist, es beginnt und endet trotzdem alles, was dich mit der Welt verbindet, in dir selbst. Stirbst du, so lebt die Welt auch ohne dich weiter; solange du aber lebst, gibt es nur euch zwei; dich und sie. Du, das bist du allein, und die Welt, das ist alles Übrige, alles, was du nicht bist.
Auf einem anderen Blatt steht, überlegte sie weiter, dass das nicht nur für dich, sondern auch für jeden anderen gilt. Niemandes Leben besitzt einen geringeren Wert als deines. Und man muss, wenn nötig, sein Leben hingeben, ohne zu zögern. Aber das ist eine andere Sache, dachte Anica, eine völlig andere.
An den Helikoptern hielt Sinovic noch eine Ansprache. Mit brüchiger Stimme, unter unablässigem Räuspern und beständig zuckendem Mundwinkel unter seinem Schnurrbartungetüm forderte er die Reporterteams auf, ihren Zusehern und Lesern zugänglich zu machen, was sie in Obaljak hatten mit eigenen Augen und Objektiven beobachten können. Auf der ganzen Welt würde man verstehen, wie notwendig der kroatische Einsatz in Bosnien, wie untauglich die Anwesenheit fremder Truppen hier sei. „Es ist unsere Pflicht, die Bevölkerung zu
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