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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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erläuterte hastig, dass es sich um Drohungen und Beschwörungen der Moslems handelte, gab Übersetzungen an. Anica betrachtete diese Inschriften eingehend und schwenkte ihr Kameraobjektiv sorgfältig und ausreichend lange darüber. In den Blickwinkel des Mini-Monitors geriet eine menschliche Hand, die hinter einer versengten Bretterwand hervorschaute und ein aufgeklapptes leeres Medaillon am Kettchen umkrampfte. Die Reporterin trat näher, bückte sich. Das Medaillon war ein Talisman, mit dem man das Bild eines geliebten Menschen mit sich trägt. Diese Kapsel jedoch war leer. Dafür bemerkte die Journalistin etwas unter den Fingernägeln der schmalen Hand: ein dünnes Büschel rötlichen, menschlichen Haares. Sie warf rasch einen Blick hinter die Planken und sah nicht wie erwartet eine junge Frau, sondern einen Jüngling. Er rührte sich nicht. Seine Hand fühlte sich kühl an, die bläulichen Finger hingen schlaff herab, am Unterleib war er entsetzlich zugerichtet. Was aber bei Anica den nachhaltigsten Eindruck hinterließ, waren seine Augen. Sein Blick war vollständig nach innen gekehrt, er hatte sich von der Außenwelt abgewendet. Als die Reporterin ihm in die Augen blickte, erkannte sie sofort, dass er tot war. Unter normalen Umständen wüsstest du jetzt, was zu tun wäre, dachte sie, und würdest auf heißen Kohlen auf das Laborergebnis der KTU warten. Aber hier? Wer, fragte sie sich zum wiederholten Mal, hat das befohlen und wer diese hirnlosen Befehle ausgeführt? Sie richtete sich auf, blickte sich um. Der Rundgang durch das geschändete, verheerte Dorf war beendet und Sinovic beantwortete noch eine Reihe von Pressefragen bei den bereits surrenden Jeeps am Dorfausgang.
    „Alle Fragen erschöpfend beantwortet?“ erkundigte sich der Major, und es klang sehr rhetorisch. Alle spürten, dass er froh war, die Angelegenheit überstanden zu haben. Er zwirbelte nervös die linke Hälfte seines Schnurrbarts. Die Schar Journalisten, überwältigt, geschockt und angewidert von dem eben Gesehenen, nickte mit trockenem Gaumen ab. Schon tippte der Offizier lässig an seinen Helm, da meldete sich Anica mit Handzeichen.
„Ihre Truppeneinheit traf ein, als das Dorf noch brannte. Ist das richtig, Major Sinovic?“ brachte sie vor in sachlichem Tonfall.
    „Jawohl“, antwortete der Offizier, wobei seine Augenlider für einen Moment herunterklappten, „jawohl, Gospodjice, wir löschten von den Bauernhäusern, so viele wir vermochten, den Rest – hauptsächlich Abtritte und Ställe – ließen wir herunterbrennen.“
    „Vrlo dobro“, stellte Anica fest, ihre Betonung klang lobend, ohne Arg. „Sehr gut, Sie haben sich Mühe gegeben. Und von den Moslems fehlt jede Spur, ja?“
    „Sie sind in südöstlicher Richtung abgezogen. Ihre Fährten verlieren sich am Fluss und in den Felsen. Übliche Taktik.“
    „Und die muslimischen Truppen waren auch, nachdem Ihre Einheit das Dorf besetzt hatte, nicht noch einmal hier, ja?“
    „Nein, mit Gewissheit nicht“, entgegnete Sinovic lächelnd. Seine Lider flackerten, die rötlichen Schnurrbartspitzen über den Mundwinkeln zuckten. Er ließ Stolz in seiner Stimme mitschwingen. „Wo wir einmal sind, da kommen die separatistischen Mohammedaner nicht wieder hin.“ Dann wickelte er die linke Schnurrbarthälfte um den Zeigefinger.
    „Razumijen“, sagte Anica lapidar, mit deutlichem ironischem Unterton. „Verstehe.“ Er spürt, dass ich die Hosen anhabe, dachte sie, ich habe ihm vor Augen geführt, dass der sogenannte kleine Unterschied gar keine wirkliche Bedeutung hat und dass innere Stärke nicht unbedingt dem stolzen Träger eines mächtigen Schnurrbarts innewohnt, sondern durchaus in der zarten Haut einer Frau stecken kann. Meine weibliche Beherztheit stellt für seine vermeintliche Mannhaftigkeit eine existentielle Bedrohung dar.
    Nach einer Sekunde fuhr seine rechte Hand an die Sonnenbrille, er nahm sie ab, um mit der linken nervös die zusammengekniffenen Augen zu reiben, denen anzusehen war, dass er den Fallencharakter der Frage begriffen hatte. In diesem Moment war die Journalistin bereits beiseitegetreten, sie sah Zudeck-Perron mit raumgreifenden Schritten vorauseilen und nestelte an ihrem Handtäschchen. Du musst unbedingt die Kassette wechseln, sagte sie sich, hoffentlich hat das Band gereicht. Für sie stand es so gut wie fest, dass die Gräueltat als eine mit bewusstem Vorsatz, aber mangelndem Bedacht geplante Propagandaaktion verübt wurde. Gleichwohl musste das

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