African Boogie
angegebene Stelle auf. Es handelte sich um den abschließenden Bericht des Gerichtsmediziners mit einer Zusammenfassung der Verletzungen. Auf ihre Mutter und ihren Vater war je dreimal geschossen worden. Zweimal in die Brust, einmal in den Kopf. Susanne wies zwei Schussverletzungen auf, beide in die Brust. Jeder einzelne der Schüsse wäre tödlich gewesen.
Drei Schüsse? TT? Klar. Das hieß »Triple Tagging«! Zwei Schüsse in die Brust. Fangschuss in den Kopf. So schossen Menschen, die mit einer Waffe umzugehen wussten und kaltblütig genug waren, um zu töten. Passte das zu Andreas Amendt? Und woher konnte er überhaupt so gut schießen? Acht Schüsse in so kurzer Zeit abzugeben und genau zu treffen, verlangte auch auf die kurze Distanz Übung und Präzision.
Andererseits: Andreas Amendt hatte Katharina das Leben gerettet und dabei vor ihren Augen einen Menschen erschossen. Mit einem einzigen Schuss, der beide Oberschenkel-Arterien des Mannes, der Katharina eben erstechen wollte, zerfetzt hatte. War das wirklich nur ein Glücktreffer gewesen?
Katharina rieb sich die Schläfen. Diese Akte war ein einziges Puzzle. Sie würde ein ganzes Team brauchen, um sie zu untersuchen und zu verstehen. Aber sie wollte wenigstens noch lesen, was Polanski selbst sagte. Sie blätterte vor zum vorläufigen Abschlussbericht am Ende der Akte.
Wie alle Berichte von Polanski war auch dieser knapp und präzise. Er formulierte als Schlussfolgerung:
Es ist davon auszugehen, dass Andreas Amendt der Täter ist. Die Suche nach weiteren Verdächtigen oder Mittätern verlief bisher erfolglos. Auch die Untersuchungen des Umfelds sowie der Lebensumstände der Geschädigten haben keine Hinweise auf mögliche weitere Verdächtige erbracht.
Eine psychiatrische Evaluation muss zeigen, ob Andreas Amendt in einem akuten und transienten psychotischen Schub gehandelt hat, wie es die Beweislage vermuten lässt.
Diese Schlussfolgerung war zumindest gewagt. Die »Wer sollte es sonst gewesen sein?«-Strategie war immer ein Notnagel. Katharina war erstaunt, dass Polanski sich dazu hinreißen ließ.
An die letzte Seite des Berichts war wie zum Hohn ein Schreiben geheftet, in dem der zuständige Staatsanwalt Polanskis Fall in Stücke riss. Katharina konnte nicht umhin, ihm recht zu geben. Die Indizienkette war nicht geschlossen. Die Tatwaffe fehlte. Man konnte Amendt nicht nachweisen, überhaupt geschossen zu haben. Es gab weder Zeugen noch ein Geständnis. Und es fehlte jedes Motiv.
Motiv! Richtig. Auch Psychotiker brauchten ein Motiv. Oder zumindest einen Trigger.
Warum sollte Andreas Amendt so eine Tat begehen? Vielleicht Susannes Schwangerschaft? War er damit überfordert gewesen?
»Das ist Blödsinn. Und das weißt du!« Katharina sah erschrocken auf. Susanne schaute über die Kante des Vordersitzes auf sie herab. Ihre Augen funkelten ärgerlich. »Andreas liebt Kinder! Das hast du ja nun weiß Gott selbst erlebt!«
Na klasse! Die Gespenster der Vergangenheit. Sie musste über der Akte eingenickt sein, unmerklich hinübergeglitten in einen jener Träume, die von der Wirklichkeit kaum zu unterscheiden waren. Aber Traum-Susanne hatte recht. Amendt war ein Kindernarr. Auch schon damals?
»Natürlich. Das habe ich dir doch geschrieben!«, beantwortete Susanne die unausgesprochene Frage. »Weißt du, was er gemacht hat, als er erfahren hat, dass ich schwanger bin?«, fragte sie. »Er hat einen Kinderwagen gekauft. Einen richtig schönen. Und das von seinem Assistenzarzt-Gehalt.«
»Begeisterung und Wahn liegen nahe zusammen oder nicht?«, sagte eine männliche Stimme neben Katharina. Thomas saß auf der Armlehne ihres Sitzes, wie üblich etwas overdressed: Dreiteiler, Hemd und Krawatte in farblich perfekt aufeinander abgestimmten Grautönen, weinrotes Einstecktuch.
Susanne fauchte ihn zornig an: »Vor lauter Begeisterung bringt er seine Verlobte um und ihre Eltern gleich mit, oder was?«
»Warum nicht? Einerseits der Kinderwunsch. Auf der anderen Seite die Angst, die Krankheit seiner Mutter geerbt zu haben und jetzt womöglich weiterzugeben. Die Spannung baut sich immer mehr auf und – Bamm!« Thomas stieß die Faust in seine Hand.
»Blödsinn.« Susannes Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
»Was denkst du denn, Katharina?«, fragte Thomas.
Sie wusste es nicht. Die Spuren ergaben keinen Sinn. Zumindest nicht, wenn man von einer spontanen Wahnsinnstat ausging.
»Ganz richtig«, sagte Susanne trotzig. »Welcher Wahnsinnige nimmt sich denn
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