Afrika im Doppelpack: Vater und Sohn mit dem Rucksack durch Schwarzafrika
Gepeinigte unzählige harte Schläge gegen den Kopf und den Körper einstecken musste, ehe er zuerst auf die Knie und anschließend von Füßen getreten ganz zu Boden fiel. Das Letzte, was sie an diesem Tag von ihm sahen, war sein blutverschmierter Körper, der zusammengerollt inmitten des noch immer hysterischen und unberechenbaren Lynchmobs auf dem Lehmboden an exakt der Stelle lag, die Mark zum wiederholten Male vor unserem Aufeinandertreffen fotografiert hatte. Die dunklen Flecken waren die Reste des vergossenen Blutes.
Mark konnte nicht sagen, was aus dem Dieb geworden war, ob er überlebt hatte oder zu Tode geprügelt worden war. Noch bevor die Raserei ihren Höhepunkt erreicht hatte, waren er und Marina wie in Trance davongelaufen. Niemals könne er die zu Grimassen verzerrten Gesichter der wie entfesselt auf den Wehrlosen einprügelnden Menschenmenge vergessen, betonte er immer wieder. Nie wieder würde er den beißenden Gestank des Schweißes der Anwesenden aus der Nase bringen. War es der Angstschweiß des Opfers? Oder rührte der Geruch von den Ausdünstungen der erbarmungslosen Mörder? Nie würde er die bohrendste aller Fragen zu beantworten in der Lage sein: Warum hatten sie keine Hilfe gerufen? Die von Mark beabsichtigte Selbstheilung durch eine erneute Konfrontation mit den Geschehnissen unmittelbar am Tatort war jedenfalls gehörig in die Hose gegangen. Nach seiner Sicht der Dinge hätte seine Cousine keine Macht der Welt dazu bringen können, sich ein weiteres Mal in das Kariakoo zu begeben. Sie wandte sich zunehmend von Afrika ab und dachte bereits über eine Rückkehr in die Niederlande nach.
Ich hatte bereits während unserer Reisevorbereitungen von dem Phänomen der „mob justice“, der Gerechtigkeit der Menge durch Lynchjustiz, gehört, aber darauf verzichtet, mit Michael über diese Thematik zu sprechen. Die Hintergründe sind vielfältig und werden kontrovers diskutiert, jedoch treten Fälle von Selbstjustiz vor allem dort zutage, wo großes Elend herrscht und selbst kleine Diebstähle unmittelbar existenzbedrohend sind. Darüber hinaus fühlen sich die Menschen in Ländern mit schwachen rechtsstaatlichen Strukturen und einer korrupten Polizei schnell dazu herausgefordert, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Niemals hätte ich mir jedoch vorzustellen gewagt, tatsächlich mit dieser Problematik konfrontiert zu werden.
Marks detailversessene und überaus emotionale Schilderung ging mir buchstäblich durch Mark und Bein. Ich war zutiefst erschüttert. Wie erst mochte es Michael gehen? Als sein Blick den meinen traf, konnte jeder in den Augen des anderen wie in einem offenen Buch lesen. Geschrieben stand dort: Nur weg von hier! Weg von Mark, weg von diesen Menschen und diesem unglücksseligen Ort. Den sich durch ihr eigenes unmenschliches Handeln selbst Entmenschlichten des Kariakoo.
Schon schoss der nächste Gedanke durch den noch nicht genug gemarterten Kopf. Jeder Blick in die jetzt argwöhnisch und misstrauisch erscheinenden Gesichter der Umstehenden war für uns wie ein tiefer Schlag in die Magengrube. Wer war dabei gewesen? Wer hatte den ersten Schlag geführt? Dort, der Grobschlächtige mit den breiten Schultern und dem herausfordernden Feldherrenblick oder sein kleiner, durchtrieben wirkender Nebenmann, der für jede Schandtat bereit zu sein schien und das jämmerliche Flehen um Gnade mit Sicherheit überhört hatte? Die anbiedernden Rufe der Verkäuferinnen von gesüßter Kokosmilch hörten sich an wie Aufforderungen zum Totschlag.
Michael und ich eilten, ohne miteinander zu sprechen, durch die engen Gassen in Richtung Taxistand. Vorbei an verfallenen Lagerhallen mit Säcken voll Reis, Mais und Getreide, entlang an Häuserzeilen mit zum Verkauf angebotener Second-Hand-Kleidung. Uns interessierten weder die fotogenen Auslagen der Obst- und Gemüsestände noch die pittoresken Alten über ihren Brettspielen. Nur das Negative fiel ins Auge. Die zwischen löchrigen Wellblechbuden auf dem blanken Boden schlafenden und vor Schmutz starrenden Bettler. All die verdreckten Kinder mit ihren verkrusteten Rotznasen, die sich im glitschigen Matsch der versickernden Abwässer balgten. Oder das Heer der sinnlos Betrunkenen, die vor vergitterten Fenstern Schlange standen, um für ein paar Schillinge ihren Rausch mit selbst gebrautem Schnaps neue Nahrung zu geben. Wir sehnten uns nach einem Rückzugsraum und sprangen, ohne ein Ziel nennen zu können, in das erste Taxi, das wir finden
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