After Moonrise (German Edition)
Züge waren verwegen, geradezu aggressiv, und doch waren ihre grünen Augen immer halb geschlossen, wie eine sinnliche Einladung, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sie zu vernaschen. Das hatte Harper jedenfalls in den Blicken aller Männer gesehen, die Lana je zu Gesicht bekommen hatten.
Selbst wenn Lana so müde war wie im Augenblick, wie seit Wochen, mit tiefen Schatten auf der zarten Haut unter ihren Augen, die Lippen aufgesprungen, weil sie ständig daran kaute, und noch abgemagerter, als ihr ohnehin schon schlanker Körper von Natur aus war, sah diese Frau noch atemberaubend aus.
„Vielleicht sollten wir umziehen“, sagte Harper. „Wir packen meine kostbaren Habseligkeiten und deinen Müll zusammen und …“
„Nein! “, rief Lana, und wiederholte dann leiser: „Nein. Ich bleibe hier.“
Harper atmete erleichtert aus.
Nachdem sie aus ihrem ersten Blackout erwacht war und gesehen hatte, was sie gemalt hatte, war sie in den Straßen herumgeirrt und hatte versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Ganz mit sich selbst beschäftigt, war sie aus Versehen in den schlimmsten Teil der Stadt geraten. Vor diesem Gebäude war sie stehen geblieben, auf einmal wie besessen von dem Verlangen, darin zu wohnen. Sie war nach Hause gerannt, um Lana davon zu erzählen, und die war blass geworden und völlig ohne Grund in Tränen ausgebrochen. Na gut, angeblich hatte es einen Grund gegeben, aber sie weigerte sich immer noch, ihn ihr zu verraten.
Schließlich war es Harper gelungen, ihre Freundin zu überreden, die gemeinsame Wohnung zu vermieten und hierher zu ziehen. Doch während sie selbst hier aufgeblüht war, ging es Lana immer schlechter. Und dennoch bekam man sie nicht einmal mit einem Panzer hier heraus.
Harper hatte Schuldgefühle deswegen, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte.
„Übrigens sind wir noch nicht fertig damit, über den Cop zu reden“, sagte Lana schon ruhiger, und sie rieb sich grinsend die Hände. „Ich habe genau gemerkt, wie du ihn angesehen hast, deshalb muss ich fragen: Wenn du sagst ‚nachdem ich mit ihm fertig bin‘, meinst du damit, dass du ihm wehtun wirst, wenn du dich in seine Arme wirfst und ihn anflehst, dich zu heiraten?“
Harper verdrehte die Augen – und in genau dem Moment bemerkte sie den schwarzen Schatten, der über die Wand in ihrem Wohnzimmer kroch. Angst ergoss sich in ihre Adern, zäh wie heißes Öl. Sie kannte diesen Schatten, hatte jedes Mal dagegen angekämpft, kurz bevor sie einen Blackout hatte. Sie wusste, er würde die Wände hinabkriechen, den ganzen Raum einhüllen und versuchen, sie zu verschlingen.
„Es tut mir leid, aber ich muss weg“, murmelte sie, griff sich ihre Handtasche und rannte auf den Flur vor ihrer Wohnung, wo die viel zu warme Luft sie fast zu ersticken schien. Die Dunkelheit würde sie einholen, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht trotzdem davonrennen würde.
Der Boden ächzte unter jedem ihrer Schritte, die Türen der anderen Wohnungen schlugen zu, und das Deckenlicht flackerte. An und aus, an und aus. Gruselig, ja, aber zu ihrer momentanen Einstellung passte es.
Lana, in ihrem langärmeligen Oberteil, Pyjamahosen und einem Werkzeuggürtel um die Hüfte, blieb ihr dicht auf den Fersen. „Alles okay?“
„Geht gleich wieder. “ Hoffe ich. Nur Harper konnte die Schatten sehen, und sie glaubte zu wissen, warum: Entweder war sie auf halbem Weg in den Wahnsinn, oder sie stand bereits an dessen Rand und winkte dem Leben, das sie einst gekannt hatte, von dort aus zu.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Wie immer stand ein hübsches junges Mädchen vor einer der Türen und versuchte, in eine Wohnung zu spähen, die nicht ihre eigene war. Schwarzes Haar fiel ihr in seidigen Wellen auf die Schultern. Normalerweise blieb das Mädchen still und bemerkte nicht, wenn Harper an ihm vorbeiging, die Aufmerksamkeit ganz auf das gerichtet, was hinter der Tür vor sich ging. Dieses Mal drehte es ruckartig den Kopf zu Harper um und schien mit seinen violetten Augen, die eher überirdisch als menschlich wirkten, direkt in ihre Seele zu starren.
„So ein ungezogenes Mädchen“, sagte der Teenager mit kalter emotionsloser Stimme, „du hättest es besser wissen müssen.“
Überrascht stolperte Harper über ihre eigenen Füße.
Lana zeigte dem Mädchen den Mittelfinger und sagte: „Tu mane užknisai. “ Sie wartete auf Harper – die wusste, dass sie dem Mädchen gerade mitgeteilt hatte, wie angefressen sie war –, und nachdem diese
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