After Moonrise (German Edition)
ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, liefen sie weiter.
Noch einmal drehte Harper sich zu dem Mädchen um. „Was habe ich gemacht?“ Sie hatte seit über einem Jahr keinen festen Freund mehr gehabt und sich seit Monaten nicht mehr verabredet, sogar noch vor ihrem „keine Männer mehr“-Entschluss. Sie hatte nichts Ungezogenes gemacht. Überhaupt nichts. Naja, außer dass sie heute Levi mit den Augen verschlungen hatte. „Hast du an der Wand des Cops gelauscht, als ich bei ihm war, du kleine …“
„Ich dir nie hätte beibringen sollen zu kämpfen. “ Lana zerrte sie weiter. „Sie hat den Verstand verloren. Vergiss sie, sonst zieht sie dich mit in ihren Wahnsinn.“
Wieder einmal trat ihr Akzent deutlich hervor, was bewies, dass das Mädchen Lana mit ihrem Vorwurf ebenso getroffen hatte wie Harper selbst. Aus dem Grund ließ Harper das Thema ruhen. Bis sie das Geheimnis des Gemäldes gelöst hatte, blieb für Lana genug zu tun – was auch immer das beinhalten würde.
Einige Minuten später standen sie draußen vor dem Haus, mit Sicht auf das lebhafte Zentrum von Oklahoma. Große Gebäude aus Chrom und Glas stachen in den babyblauen Himmel, an dem keine Wolke zu entdecken war. Dichte grüne Bäume mit gewundenen Zweigen säumten die Flusspromenade und die viel zu vollen Gehwege. Tatsächlich waren die Gehwege sogar noch voller als gewöhnlich. Auf den Straßen sausten Autos in allen Farben vorbei, die die Geschwindigkeitsbegrenzung nur als einen gut gemeinten Ratschlag zu betrachten schienen.
Die Novemberluft war frostig, aber Harper störte das nicht. „Wie dem auch sei“, wechselte sie das Thema, „wenn du die Wohnung so sehr hasst, warum willst du dann bleiben?“ Sie fragte, obwohl schon der Gedanke an Ausziehen sie innerlich zum Beben brachte. Sie fragte, obwohl sie schon oft gefragt und nie eine Antwort erhalten hatte.
„Ich hasse es dort nicht. Ich gehöre dorthin.“
Das war wenigstens etwas. „Aber …“
„Noch ein einziges Aber, und es setzt was! “
Harper lachte, sie konnte einfach nicht anders.
Ein Mann und eine Frau, die ihnen entgegenkamen, schreckten zurück, als hätte der Klang ihrer Stimme sie erschreckt. Das Paar sah sie merkwürdig an, ehe es an ihr vorbei ging. Dann hatte sie eben ihren Pyjama an, genau wie Lana. Na und?
„Also, wohin wir gehen?“, fragte Lana.
Nachdem Harper einen Augenblick nachgedacht hatte, entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. „Gehen wir dorthin, wo die Reise für uns angefangen hat. Wenn ich herausfinde, was mit mir geschehen ist, höre ich vielleicht auf, in meinen Träumen diese Schmerzensschreie zu hören.“
Hinter ihnen, in den Schatten verborgen, hielt Levi mit den beiden Frauen Schritt. Was für ein aufsehenerregendes Paar die beiden doch abgaben. Die große Rothaarige und die zierliche Blondine, beide unvorstellbar weiblich. Fast jeder Mann, der an ihnen vorbeiging, starrte die Rothaarige an und überging Harper, als wäre sie einfach nichts im Vergleich.
Idioten, dachte er. Harper hatte etwas Zartes an sich, eine Zerbrechlichkeit, aber wenn sie den Mund aufmachte, merkte man, was für eine Furie sie tatsächlich war. Der Kontrast machte sie aufregend.
Aber ihre blauen, blauen Augen – diese umschatteten Augen voller Geheimnisse und Schmerz und tausend Fragen, die niemand beantworten konnte – spukten in seinen Gedanken. So sehr sie ihn bei jeder anderen Frau abgeturnt hätten und ihn auch bei ihr abturnen sollten, er wollte sie mit jeder Sekunde, die verging, mehr. Scham und Schuldgefühle waren komplett verschwunden, und jedes Mal, wenn er sie jetzt ansah, wuchs in ihm das Bedürfnis, sie zu beschützen. Es war stärker als vorher, so stark, dass es ihn fast überwältigte.
Ein Mann musste eine Frau berühren, um sie zu schützen, und er wollte Harper wirklich dringend noch einmal berühren. Diese Zartheit … diese Wärme …
Finde erst heraus, was ihr Geheimnis ist .
Er war in ihre Wohnung gegangen und hatte einen Moment zerfallende Wände gesehen, sogar eine Ratte, die ihm über die Füße gelaufen war. Aber dann waren die Wände unversehrt und in fröhlichen Gelb- und Blautönen gestrichen gewesen, die Wohnung angefüllt mit bunten Möbeln und sauber geschrubbt. Die kurze Halluzination hatte ihn beunruhigt, aber er hatte sie nicht erwähnt. Dann hatte er ihr Bild gesehen, schrecklich, ohne Frage, genau wie sie es beschrieben hatte – ein Mann, der über einer gefesselten, geschlagenen und nackten Frau stand, ein Messer
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