After Moonrise (German Edition)
bebender Stimme. „Ich kann nicht. Ich kann nicht, und du kannst mich nicht zwingen. Bitte zwing mich nicht! “
Ich bin noch nicht so weit. Die Worte hallten durch seine Gedanken, und er erstarrte. Ich kann nicht, und du kannst mich nicht zwingen. Bitte zwing mich nicht! Hatte jemand sie gezwungen? Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Nein. Das wollte er nicht glauben, der Gedanke machte ihn krank. Es musste mit dem Gemälde zu tun haben. Eine einsame Frau, angebunden auf einer kalten Metallplatte, nackt, Folterinstrumente an den Wänden.
„Harper“, sagte er. Sie atmete zu schnell und würde wahrscheinlich in Ohnmacht fallen, wenn sie sich nicht beruhigte.
Auf den ersten Blick schon hatte er vermutet, dass irgendetwas in ihr zerbrochen war. Jetzt wusste er es ohne jeden Zweifel. Sie war zerbrochen – aber sie war auch so viel mehr. Sie war in die Wohnung eines Mannes geschneit, den sie nicht einmal kannte, und hatte ihn um Hilfe gebeten. Sie hatte die Kraft gehabt, sich selbst zusammenzuflicken und nach Antworten zu suchen.
„Harper“, wiederholte er, während er langsam aufstand.
Ihr entfuhr nur ein leises Wimmern.
Ganz behutsam ging er erst einen Schritt, dann noch einen auf sie zu, um so wenig bedrohlich wie möglich zu wirken. Er streckte die Hände aus, die Handflächen nach außen gekehrt. „Ich werde dich zu nichts zwingen, okay?“
Noch ein Wimmern.
„Du bist hier bei mir, bei Levi, und du bist in Sicherheit. “ Am Anfang hatte er sich gesagt, dass er sich von ihr fernhalten würde, wenn sie irgendwie zerbrochen war, dass er genug an seinen eigenen Sorgen zu tragen hatte und nicht noch jemand anderem dabei helfen konnte, mit sich klarzukommen. Jetzt wusste er, dass er sich auf keinen Fall aus ihrem Leben raushalten konnte. Nicht nur, weil er mehr von ihr wollte, mehr von allem, was sie zu bieten hatte, sondern auch, weil er es nicht ertrug, sie so zu sehen. Er wollte seine lächelnde, flirtende Harper zurück.
Als er bei ihr angekommen war, hockte er sich vor sie hin und achtete dabei darauf, sie nicht zu berühren. „Harper, Kleines. Kannst du mich hören?“
Eine Träne lief ihr die Wange hinab.
Ein scharfer Schmerz in seiner Brust trieb ihm einen Fluch auf die Lippen, den er sich verkneifen musste. Langsam, ganz langsam streckte er die Hand aus, um ihr das Haar aus der Stirn zu streichen. Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte, aber jedenfalls nicht das, was dann passierte. Sie explodierte in eine Wolke aus Bewegung und Wut.
„Nein! “ Ihre Faust traf ihn ins Auge.
Dafür, dass sie so winzig war, explodierte überraschend starker Schmerz in seinem Schädel, aber er regte sich dennoch nicht. Er hatte im Leben schon so viele Schläge eingesteckt, dass es ihm wahrscheinlich nicht einmal etwas ausgemacht hätte, von einer Halbautomatik erwischt zu werden. Aber sie war noch nicht fertig und gab jetzt ihr Bestes, eine Welt aus Schmerz auf ihn herabregnen zu lassen. Er ließ sie gewähren. Als der fünfte Schlag ihn traf, hatte er bereits so viel Adrenalin ausgeschüttet, dass er sowieso kaum noch etwas spürte. Erst als sie anfing zu treten und sich zu winden und die Wand zu attackieren, als wolle sie sich hindurchkratzen, streckte er die Hand nach ihr aus.
Er konnte sich gerade noch bremsen, bevor er sie anfasste. Wenn er sie zu früh berührte, würden ihre Angst und Verzweiflung erneut aufkochen, und er müsste sich um ganz neue Verletzungen kümmern. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als abzuwarten. Sehr viel länger dürfte es nicht dauern. Ihre Bewegungen wurden langsamer … langsamer …
Schließlich wich die Kampfbereitschaft ganz aus ihr. Sie brach schluchzend auf dem Boden zusammen. Bei dem Anblick brach sein Herz in so viele Scherben, dass er sich nicht sicher war, ob er sie jemals wieder alle würde zusammensetzen können.
Sanft sagte er: „Harper, Kleines?“
„Levi?“, fragte sie schniefend.
Gott sei Dank! Er hob sie hoch und drückte sie an seine Brust. Sie erlaubte es ihm und barg ihr Gesicht an seinem Hals. Er konnte die Nässe ihrer Tränen spüren und hätte am liebsten mitgeheult.
Er trug sie zur Couch und setzte sich, ohne sie auch nur einen Augenblick loszulassen. Mehrere Minuten vergingen schweigend. Er hatte schon mit Missbrauchsopfern zu tun gehabt, aber noch nie so persönlich. Weil er sich also nicht sicher war, was er tun sollte, vertraute er einfach auf seine Instinkte und massierte ihr vorsichtig den Nacken, spielte mit ihren
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