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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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normal.«
    »Eigentlich schon. Aber manche Leute fragen auch nur aus Höflichkeit.«
    »Keine Ahnung. Aber weswegen sollte ich dich aus Höflichkeit etwas fragen?«
    »Da hast du auch wieder Recht.« Takahashi überlegt kurz und stellt dann seine Tasse klappernd auf den Unterteller zurück. »Es gibt die lange und die kurze Version. Welche willst du hören?«
    »Die mittlere.«
    »Verstehe. Antwort Medium Size.«
    Es dauert einen Moment, bis Takahashi sich die Worte zu rechtgelegt hat.
    »Zwischen April und Juni war ich in diesem Jahr häufig bei Gericht. Im Landgericht Tokyo in Kasumigaseki. Ich habe mir dort ein paar Verhandlungen angehört, für eine Seminararbeit. Warst du schon mal auf einem Gericht?«
    Mari schüttelt den Kopf.
    »Ein Gericht hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kino Komplex«, sagt Takahashi. »Programm und Anfangszeiten des betreffenden Tages werden auf einer Tafel am Eingang angeschlagen. Danach kannst du wählen, was dich davon am meisten interessiert. Da gehst du hin und hörst zu. Jeder hat freien Zutritt. Kameras oder Kassettenrekorder sind nicht gestattet. Essen auch nicht. Sich zu unterhalten ist ebenfalls verboten. Die Sitze sind eng, und die Gerichtsdiener passen auf, dass niemand einnickt. Immerhin kostet es keinen Eintritt, also kann man nicht meckern.«
    Takahashi macht eine Pause.
    »Hauptsächlich habe ich mir Verhandlungen über Kriminalfälle angehört - Überfälle mit Körperverletzung, Brandstiftung oder Raubmord. Ein übler Kerl macht etwas Übles, wird gefasst und vor Gericht gestellt. Dann erhält er seine Strafe. Leicht zu verstehen, oder? Aber solche Dinge wie Wirtschaftsverbrechen oder politische Vergehen haben einen komplizierten Hintergrund. Die Grenze zwischen Gut und Böse ist schwierig zu ziehen, es ergeben sich Komplikationen. Eigentlich wollte ich bis vor kurzem auch nur meine Arbeit schreiben, eine einigermaßen gute Note bekommen und fertig. So ähnlich wie man in der Grundschule in den Sommerferien ein Tagebuch mit Beobachtungen über die Trichterwinde schreibt.«
    Hier unterbrach Takahashi und betrachtete seine Handflächen auf dem Tisch.
    »Doch während ich immer wieder ins Gericht trabte und die Fälle verfolgte, entwickelte ich komischerweise ein Interesse an den Umständen, die dort verhandelt wurden, und an den Menschen, die in sie verwickelt waren. Jedenfalls konnte ich nicht mehr behaupten, das ginge mich alles nichts an. Es war ein seltsames Gefühl. Bislang hatte ich vorausgesetzt, dass solche Verhandlungen eine ganz andere Art von Menschen beträfen als mich - Leute, die in einer anderen Welt lebten, die anders dachten, sich anders verhielten. Zwischen ihrer Welt und meiner stünde eine feste, hohe Mauer, nahm ich lange an. Die Möglichkeit, dass ich ein grausames Verbrechen begehen könnte, stand für mich nicht einmal zur Debatte. Ich bin Pazifist, dem Naturell nach eher sanftmütig, und seit meiner Kindheit habe ich gegen niemanden die Hand erhoben. Deswegen saß ich auch immer ziemlich unbeteiligt dabei, als ginge mich das im Grunde alles nichts an.«
    Takahashi schaut auf und sieht Mari ins Gesicht. Er wägt seine Worte ab.
    »Als ich mir jedoch bei den Verfahren die Aussagen der Betroffenen, die Argumente der Staatsanwälte, die Plädoyers der Verteidiger und die Erklärungen der Angeklagten selbst anhörte, ging mir dieses Selbstvertrauen irgendwie verloren. Mit der Zeit gelangte ich zu folgender Ansicht: So etwas wie eine Mauer, die verschiedene Welten trennt, existiert in Wirklichkeit gar nicht. Und wenn doch, dann ist sie wahrscheinlich aus dünnem Papiermache. Wenn man sich plötzlich dagegenlehnt, bricht man möglicherweise durch und landet auf der anderen Seite. Vielleicht merken wir bloß nicht, dass sich die andere Seite schon in unser Inneres hineingestohlen hat... Es ist schwierig in Worte zu fassen, dieses Gefühl, weißt du.«
    Takahashi strich mit dem Finger am Rand seiner Kaffeetasse entlang.
    »Nachdem ich einmal auf den Trichter gekommen war, begann ich vieles anders zu sehen als zuvor. Unser so genanntes Rechtssystem verwandelte sich vor meinen Augen in eine eigenartige, groteske Kreatur.«
    »In eine groteske Kreatur?«
    Ja, in so etwas wie einen Kraken - einen riesigen Kraken, der auf dem Grund der Tiefsee lebt. Er ist robust und vital und bewegt sich mit seinen langen, sich windenden Armen in der dunklen Tiefe des Meeres. Bei vielen Verhandlungen drängte sich mir die Vorstellung von so einem Vieh förmlich auf. Es

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