Afterdark
nahm die verschiedensten Gestalten an. Auch die von Staat oder Gesetz. In immer komplexeren, bedrohlicheren Formen. Und wenn man ihm die Arme abhackt, wachsen immer weitere nach. Niemand kann dieses Biest töten. Weil es so stark ist und in so großer Tiefe lebt. Wo sein Herz ist, weiß man nicht. Damals verspürte ich tiefe Furcht. Es war so etwas wie Verzweiflung darüber, dass man ihm nicht einmal durch Flucht entkommen kann. Dieses Vieh respektiert überhaupt nicht, dass ich ich bin oder dass du du bist. Vor ihm verlieren alle Menschen ihren Namen und ihr Gesicht. Wir alle sind nichts als Zeichen und Nummern.«
Mari starrt ihm ins Gesicht.
Takahashi nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. »Findest du dieses Thema zu öde?«
»Ich höre genau zu«, sagt Mari.
Takahashi stellt die Tasse wieder auf den Unterteller. »Vor etwa zwei Jahren ist es in Tachikawa zu einem Mord mit Brandstiftung gekommen. Ein Mann erstach ein altes Ehepaar und raubte ihre Sparbücher und Stempel. Dann zündete er ihr Haus an, um alle Spuren zu vernichten. Es war eine stürmische Nacht, und das Feuer griff auf vier Nachbarhäuser über. Der Mann wurde zum Tode verurteilt. Für die heutige japanische Rechtsprechung ist das ein ganz normales Urteil. Bei Doppelmord wird in fast allen Fällen die Todesstrafe verhängt. Tod durch den Strang. Darüber hinaus hatte der Mann ja noch Brandstiftung begangen und war überhaupt ein ziemlich übler Kerl. Er war gewalttätig veranlagt und hatte schon viele Male im Gefängnis gesessen. Seine Familie hatte ihn längst aufgegeben, und sobald er auf freiem Fuß war, nahm er Drogen und beging Verbrechen. Er zeigte auch keinerlei Reue, bis zum Schaffott nicht, kein bisschen. Ein Gnadengesuch wurde glatt abgelehnt. Sein Pflichtverteidiger hatte von Anfang an aufgegeben. Also war von der Todesstrafe niemand überrascht. Auch ich nicht. Als ich den Richter das Urteil verlesen hörte und mir Notizen machte, dachte ich noch, >das war ja klar<. Die Verhandlung ging zu Ende, ich stieg in Kasumigaseki in die U-Bahn, fuhr nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch und fing an, meine Notizen durchzusehen. Plötzlich überfiel mich ein Gefühl von Hilflosigkeit und Schwäche. Wie soll ich sagen, es war, als fiele auf der ganzen Welt die elektrische Spannung ab. Alles wurde um einen Grad dunkler und kälter. Ich fing an zu zittern, es wollte gar nicht mehr aufhören, und Tränen traten mir in die Augen. Warum nur? Ich konnte es mir nicht erklären. Ein Mann war zum Tode verurteilt worden, aber wieso wühlte mich das so auf? Der Typ war sowieso nicht zu retten. Er und ich hatten doch keinerlei Gemeinsamkeiten. Warum verstörte mich dieser Fall dann so tief?«
Er lässt die Frage etwa dreißig Sekunden im Raum stehen. Mari wartet, dass er weiterspricht.
»Was ich sagen will«, fährt Takahashi nun fort, »ist etwa Folgendes. Wenn ein Mensch, egal was für einer, von einem riesigen krakenähnlichen Tier umschlungen und in die dunkle Tiefe gezerrt wird, bleibt das ein unerträglicher Anblick. Auch wenn es noch so gute Gründe dafür gibt.«
Er starrt in den Raum über dem Tisch und stößt einen tiefen Seufzer aus.
»Das sind jedenfalls so meine Gedanken seit jenem Tag. Also sage ich mir, dass ich erst mal ernsthaft Jura studieren sollte. Vielleicht finde ich dort, was ich suche. Jura zu studieren macht vielleicht nicht so viel Spaß, wie Musik zu machen, aber was hilft's, so ist das Leben. Das nennt man erwachsen werden.«
Stille.
»War das die Medium-Size-Erklärung?«, fragt Mari.
Takahashi nickt. »Vielleicht ein bisschen lang geraten. Ich hab zum ersten Mal jemandem davon erzählt, und hatte die Länge wohl noch nicht ganz im Griff. ... Übrigens, wenn du das Sandwich nicht mehr isst, kann ich's dann haben?«
»Aber da ist nur Thunfisch drauf.«
»Macht nichts, ich mag Thunfisch. Du nicht?«
»Doch, aber wenn du Thunfisch isst, kann sich leicht Quecksilber im Körper ablagern.«
»Ach?«
»Wenn Quecksilber im Körper gespeichert wird, kann es ab vierzig zu Herzanfällen kommen. Auch die Haare fallen dann leichter aus.«
Takahashi macht ein mürrisches Gesicht. »Demnach ist nicht nur Hühnchen ungesund, sondern Thunfisch auch?« Mari nickt.
»Zufällig beides Lieblingsspeisen von mir«, sagt er. »Sie sind aber giftig«, sagt Mari.
»Sonst mag ich noch Kartoffelsalat. Ist Kartoffelsalat auch sehr problematisch?«
»Ich glaube nicht«, sagt Mari. »Außer, dass man dick wird, wenn man zu viel davon
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