Afterdark
hingebracht, und Kaoru hat mir einen Tee angeboten. Wir haben über dies und jenes geredet, und dann hat sie mich gefragt, ob ich vom nächsten Tag an bei ihnen aushelfen könne. Ich konnte das nicht ablehnen. Die Bezahlung war nicht großartig, aber ich durfte dort essen und so. Den Raum, in dem wir proben, hat uns Kaoru auch vermittelt. Sie sieht ein bisschen wild aus, ist aber sehr fürsorglich. Ich gehe auch jetzt noch manchmal bei ihr vorbei. Und wenn irgendwas mit dem Computer ist, ruft sie mich an.«
»Und was ist aus dem Mädchen geworden?«
»Mit dem ich im Hotel war?«
Mari nickt.
»Ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen«, sagt Takahashi. »Bestimmt ist ihr die Lust vergangen. jedenfalls ein Fehlschlag auf der ganzen Linie. Andererseits fühlte ich mich eh nicht so furchtbar zu ihr hingezogen, also machte es mir nicht viel aus. Auch wenn alles geklappt hätte, wäre die Sache früher oder später in die Binsen gegangen.«
»Du gehst also mit Leuten, zu denen du dich nicht so hingezogen fühlst, in ein Hotel. Oft?«
»Nee. So gesegnet sind meine Umstände nicht. Es war mein erstes Mal in einem Love Hotel.«
Sie schlendern weiter.
»Außerdem hatte ich es gar nicht vorgeschlagen«, bringt Takahashi zu seiner Verteidigung vor. »Sie hat gesagt >komm, wir gehen in ein Love Hotel<. Wirklich.«
Mari schweigt.
»Aber das wird wieder eine lange Geschichte, wenn ich dir das erzähle. Gewisse Umstände haben dazu geführt«, sagt Takahashi.
»Du bist ein Mann der langen Geschichten, oder?«
»Kann sein«, gibt er zu. »Wie das wohl kommt?«
»Vorhin hast du doch gesagt, du hättest keine Geschwister, oder?«
»Ja, ich bin Einzelkind.«
»Du warst mit Eri auf einer Oberschule, und deine Eltern wohnen in Tokyo, oder? Wieso wohnst du dann nicht zu Hause?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Gibt's eine Kurzfassung?«
»Ja, die ist aber sehr kurz«, sagt Takahashi. »Willst du sie hören?«
»Ja«, sagt Mari.
»Meine Mutter ist nicht meine leibliche Mutter.«
»Und deshalb verstehst du dich nicht mit ihr?«
»Das kann man so nicht sagen. Ich bin kein Typ, der offen rebelliert. Aber es liegt mir auch nicht, jeden Tag grinsend am Esstisch zu sitzen und Small Talk zu machen. Außerdem bin ich von Natur aus jemand, der nicht darunter leidet, allein zu sein. Und meine Beziehung zu meinem Vater ist auch nicht gerade freundschaftlich.«
»Versteht ihr euch nicht?«
»Ja, wir sind sehr verschiedene Menschen mit sehr verschiedenen Wertvorstellungen.«
»Was macht dein Vater?«
Takahashi geht langsam und starrt dabei stumm auf seine Füße. Mari schweigt.
»Eigentlich weiß ich nicht genau, was er macht«, sagt Takahashi. »Aber jedenfalls nichts Anständiges. Ich habe da so eine Vermutung, die mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit zutrifft. Außerdem war er - und das erzähle ich kaum jemandem - ein paar Jahre im Gefängnis, als ich noch klein war. Kurz, er ist ein unsozialer Mensch, ja sogar ein Krimineller. Das ist einer der Gründe, weswegen ich nicht zu Hause sein will. Die Gene beunruhigen mich.«
»Das war die absolute Kurzfassung?«, fragt Mari erstaunt. Und lacht. Takahashi sieht ihr ins Gesicht. »Du hast zum ersten Mal gelacht.«
10
03:25 Uhr
Eri Asai schläft noch immer.
Aber der Mann ohne Gesicht, der gerade noch auf dem Stuhl neben ihr saß und Eris Gesicht so anhaltend betrachtet hat, ist nicht mehr da. Auch der Stuhl ist verschwunden, als wäre er nie dort gewesen. So wirkt das Zimmer noch kahler als zuvor, noch verlassener. In der Mitte steht das Bett mit Eri. Sie sieht aus wie ein Mensch, der in einem Rettungsboot auf einem ruhigen Ozean dahintreibt. Wir beobachten diese Szene von unserer Seite aus, aus Eris realem Zimmer, über den Fernsehschirm. Die Kamera, die sich anscheinend in dem Zimmer auf der anderen Seite befindet, nimmt Eris schlafende Gestalt auf und überträgt sie auf unsere. Sie verändert regelmäßig ihren Standort und ihren Winkel. Sie geht ein bisschen näher heran, dann wieder etwas zurück.
Zeit vergeht, aber nichts geschieht. Eri bewegt sich nicht. Kein Laut ertönt. Sie treibt, mit dem Gesicht nach oben, auf einem Meer der reinen Gedanken, ohne Wellen und ohne Strömung. Dennoch können wir den Blick nicht von dem Bild abwenden, das uns da gesendet wird. Warum nur? Wir verstehen es nicht. Doch wir haben eine gewisse Ahnung und spüren, dass dort etwas ist. Dort ist etwas. Ohne ein Anzeichen von sich preiszugeben, verbirgt es sich unter der
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