Afterdark
Wasseroberfläche. Wir schauen aufmerksam auf den reglosen Bildschirm, um zu ergründen, ob es da etwas gibt, das sich unseren Blicken entzieht.
Da! Eri Asais Mundwinkel scheinen sich ganz leicht bewegt zu haben. Nein, eine Bewegung kann man es eigentlich nicht nennen, ein kaum merkliches Zucken vielleicht. Vielleicht hat auch nur der Bildschirm geflimmert. Oder es war eine optische Täuschung. Möglicherweise führt auch unser zwanghaftes Suchen nach irgendeiner Veränderung zu Halluzinationen. Um uns zu vergewissern, strengen wir unsere Augen noch mehr an.
Die Linse der Kamera nähert sich ihrem Objekt, als wolle sie unseren Willen aufsaugen. Eris Mundwinkel heben sich. Mit angehaltenem Atem starren wir auf den Bildschirm. Geduldig warten wir, was als Nächstes geschieht. Wieder ein Zittern der Lippen. Eine flüchtige Muskelanspannung. Genau die gleiche Bewegung wie vorhin. Kein Zweifel, es ist keine optische Täuschung. Mit Eri Asai geschieht etwas.
Allmählich genügt es uns nicht mehr, passiv von unserer Seite aus auf den Bildschirm zu schauen. Wir wollen das Innere jenes Zimmers unmittelbar mit eigenen Augen sehen. Wir wollen Eris leichte Bewegungen, die vielleicht auf eine Bewusstseinsregung hindeuten, aus größerer Nähe in Augenschein nehmen, konkreter versuchen, deren Bedeutung zu ergründen. Spontan beschließen wir, auf die andere Seite des Bildschirms hinüberzuwechseln.
Da wir fest entschlossen sind, ist das nicht so schwer. Wir können uns aus unserem Körper lösen, ihn zurücklassen und zu einem ideellen Blickpunkt ohne Materie werden. Dies ermöglicht es uns, jede Mauer zu durchqueren und die tiefsten Abgründe zu überfliegen. Wir werden (praktisch) zu einem reinen Punkt und durchdringen den Fernsehschirm, der die beiden Welten trennt. Wir wechseln von dieser auf jene Seite über. Bei unserer Reise durch Mauern und über Abgründe verzerrt sich die Welt, reißt auf, bricht und löst sich völlig auf. Alles verwandelt sich in puren, feinkörnigen Staub und zerstiebt in alle vier Richtungen, kurz darauf formiert sich wieder eine Welt. Eine neue Wirklichkeit umgibt uns. All das geschieht während eines Wimpernschlags.
Mithin befinden wir uns jetzt auf der anderen Seite. In dem vom Bildschirm ausgestrahlten Zimmer. Wir schauen uns um. Sondieren die Lage. Es riecht, als sei längere Zeit nicht sauber gemacht worden. Das Fenster ist geschlossen, die Luft abgestanden. Es ist kühl und riecht leicht nach Schimmel. Die Stille ist so tief, dass sie in den Ohren schmerzt. Es ist niemand hier. Nichts weist darauf hin, dass sich etwas versteckt. Sollte sich hier doch etwas verborgen haben, dann ist es längst verschwunden. Hier sind nur wir und Eri Asai.
Eri schläft noch immer in der Mitte des Raumes. In dem vertrauten Bett, unter der vertrauten Decke. Wir nähern uns ihr, um ihr Gesicht zu betrachten. Lassen uns Zeit, die Einzelheiten genau zu erforschen. Wie gesagt, wir sind nur Auge. Wir können beobachten, Informationen sammeln und uns möglicherweise ein Urteil bilden. Eri zu berühren ist uns nicht gestattet. Auch ansprechen können wir sie nicht. Nicht einmal indirekt auf unsere Gegenwart hinweisen.
Kurz darauf bewegt sich Eris Gesicht wieder - eine reflexartige Muskelbewegung, als verscheuche sie ein kleines Insekt, das sich auf ihrer Wange niedergelassen hat. Dann flattert mehrmals ihr rechtes Augenlid. Gehirnwellen entstehen. In einem Winkel ihres dämmrigen Bewusstseins reagieren zwei winzige Fragmente stumm aufeinander und verbinden sich, wie Wellenringe sich ausbreiten. Dieser Prozess findet vor unseren Augen statt. Auf diese Weise bildet sich eine Einheit. Als Nächstes verbindet sich eine an anderer Stelle entstandene Einheit mit dieser, und die Basis für Selbstwahrnehmung wird geschaffen. Mit anderen Worten, Eri bewegt sich schrittweise auf ihr Erwachen zu.
Auch wenn dieses Erwachen quälend langsam vor sich geht, gibt es kein Zurück mehr. Trotz gelegentlicher Fehlentwicklungen geht es Stückchen für Stückchen vorwärts. Die Intervalle zwischen einer Bewegung und der nächsten verkürzen sich allmählich. Die Muskeltätigkeit beschränkt sich zunächst auf Eris Gesicht, erfasst aber mit der Zeit den ganzen Körper. Irgendwann heben sich sacht ihre Schultern und die kleinen weißen Hände kommen unter der Decke hervor. Zuerst die linke - sie erwacht einen Moment vor der rechten. Die Fingerspitzen lösen sich in der neuen Zeitlichkeit aus ihrer Erstarrung, öffnen sich und tasten
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