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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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als Einziger bereit zu tun, was nötig ist. Jeder andere hätte dieses Mädchen angesehen und nicht gemerkt, wie gefährlich es ist. Ein Feind, der vom Aberglauben berauscht ist, kämpft weiter, auch wenn er mit Sicherheit verliert. Dieses Mädchen könnte Hunderte sowjetischer Soldaten das Leben kosten. Sie könnte Tausende Afghanen das Leben kosten. Ihre Gnade würde nur zu noch mehr Blutvergießen führen.
    Er hob das kleine Mädchen hoch und trug es aus dem Haus. Nara folgte ihm. Leo blieb in der Küche bei den drei Frauen, deren Gesichter im Schatten und hinter dem Qualm des Feuers verborgen blieben. Die drei Fremden warteten darauf, welche Entscheidung er treffen würde. Es gab keinen Grund, warum Leo ihre Meinung wichtig sein sollte. Er würde sie nie wiedersehen. Es war absurd, dass ihn ihre verborgenen Blicke so verunsicherten. Nur waren sie in dem Dämmerlicht keine Fremden mehr, sondern die drei Frauen aus seinem eigenen Leben: seine Töchter und seine Frau Raisa. Und nichts auf der Welt war ihm wichtiger als ihre Meinung. Es war egal, dass er nie wieder Raisas Hand halten, sie nie wieder berühren oder küssen würde. Höchstwahrscheinlich würde er auch seine Töchter nie wiedersehen. Und trotzdem waren sie jetzt bei ihm, hier in diesem Zimmer, und urteilten über ihn. Der Rauch aus dem Feuer war zu der Opiumwolke geworden, in der er sich versteckt hatte. Jetzt musste er sich entscheiden, ob er vor den Augen seiner Familie versagen konnte, obwohl er geschworen hatte, sie nie wieder zu enttäuschen.
    Leo kehrte in den Hauptraum zurück, bückte sich neben der Leiche des alten Mannes und hob sein langes, gebogenes Messer auf.

Am selben Tag
    Das Dorf brannte. Unzählige Männer lagen auf dem Boden. Einige drückten verzweifelt die Hände auf ihre Wunden, als wollten sie ihre Körper zusammenhalten. Andere krochen jämmerlich davon und zogen Blutspuren durch den Staub. Leo ging langsam zwischen ihnen hindurch, über manche stieg er hinweg, das Messer in der Hand flach gegen den Rücken gepresst.
    Ein Haus war von einer Granate zerstört worden, eine Wand war eingestürzt, das Holzdach qualmte. Drei der Speznas-Soldaten waren tot. Ein vierter war angeschossen worden und konnte sein Gewehr nicht mehr halten. Er stützte sich auf die Schultern des einzigen unverwundeten Soldaten, der mit zwei Waffen auf die höher gelegenen Stellungen der Feinde schoss. Die Kugeln prallten an der Felswand ab. Wütend über die Verzögerung schrie er mit heiserer Stimme:
    – Wir müssen hier weg!
    Der Hauptmann zwang das kleine Mädchen mitten im Dorf auf die Knie. In die Berge, wo die Überlebenden Zuflucht suchten und die Kämpfer zu den Waffen gegriffen hatten, rief er hinauf:
    – Hier ist euer Wunderkind! Hier ist das Kind, das man nicht töten kann!
    Er hielt das Gewehr vor ihren Hinterkopf.
    Leo näherte sich dem Hauptmann von hinten, er schwang das Messer und zielte, wie zuvor der alte Mann, auf den Hals. Er war nicht mehr so schnell wie früher, das Alter und das Opium hatten ihn ungelenk gemacht. Der Hauptmann sah ihn, drehte sich um und hob einen Arm, um das Messer abzuwehren. Die Klinge war scharf, sie drang in seinen Unterarm und schnitt so tief, dass er das Gewehr fallen ließ. Leo riss das Messer hoch, um noch einmal zuzustechen. Ohne auf seine Verletzung zu achten, trat Waschtschenko Leo die Beine weg. Leo fiel nach hinten, ließ das Messer fallen und blickte in den Himmel.
    Der Speznas-Soldat kam auf Leo zu und senkte den Lauf. Leo rollte sich in Richtung des Mädchens, das immer noch am Boden kniete. Er rief ihr auf Dari zu:
    – Lauf weg!
    Sie rührte sich nicht, sie öffnete nicht einmal die Augen. Dann fielen Maschinengewehrschüsse. Aber Leo war nicht getroffen worden. Er verstand nicht, wie der Mann ihn verfehlen konnte. Als er aufblickte, sah er, wie der sowjetische Soldat nach hinten kippte und seinen verwundeten Kameraden mitriss.
    Mehrere bewaffnete Dorfbewohner nutzten die Ablenkung und kamen schießend näher. Allein, unbewaffnet und unter Beschuss zog sich der Hauptmann zurück. Er war unterlegen und konnte auch das Mädchen nicht erreichen, also floh er gejagt von Schüssen den Bergpfad hinunter. Leo sah nach dem kleinen Mädchen. Sie hielt immer noch die Augen geschlossen. Er kroch auf sie zu und berührte ihr Gesicht. Sie öffnete die Augen, deren Wimpern verbrannt und verklebt waren. Er flüsterte:
    – Dir passiert nichts.
    Die Dorfbewohner kamen mit ihren Waffen näher. Sie wurden von

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