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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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anderen Soldaten hatten auf die Menge angelegt. Leo schob sich neben den Hauptmann.
    – Wenn wir jetzt gehen, muss niemand sterben. Wenn wir bleiben, eskaliert die Situation.
    Gelassen ignorierte der Hauptmann Leo und half Nara auf.
    – Geht es Ihnen gut?
    Sie nickte.
    – Sagen Sie ihnen noch einmal, dass ich den Jungen sehen will.
    Nara wiederholte den Befehl auf Dari. Sobald sie ausgesprochen hatte, feuerte der Hauptmann eine weitere Salve in den Himmel ab. Dann senkte er den Gewehrlauf und zielte direkt auf die versammelte Menge. Einer der Soldaten nahm eine Handgranate, zog den Sicherungsstift und ließ ihn fallen. Trotz der Drohungen rührte sich niemand in der Menge, keiner gab ein Zeichen, wo der Junge sein könnte. Leo sagte:
    – Sie werden Ihnen den Jungen nicht zeigen!
    Das glaubte der Hauptmann auch. Er ging zu dem größten Haus, vor dem er aufgehäufte Geschenke entdeckt hatte. Leo folgte ihm. Bevor der Hauptmann das Haus betrat, befahl er den Soldaten:
    – Riegeln Sie das Gebäude ab. Niemand kommt mir da hinein. Verstanden?
    Leo und Nara folgten ihm ins Haus. Die Soldaten blieben mit erhobenen Waffen davor stehen.
    Im Haus war es dunkel, unter dem pyramidenförmigen Dach hatte sich eine dünne Rauchschicht gebildet, die aufwallte wie eine gefangene Wolke. Kerzen bildeten einen groben Halbkreis, dazu brannte Weihrauch. Der Geruch war überwältigend. In der Mitte des Zimmers saß ein Junge auf einem Podest mit einem hübschen Webteppich, wie auf einer Bühne. Er war in weiße Tücher gehüllt und höchstens vierzehn Jahre alt, obwohl man sein Alter wegen seines ungewöhnlichen Aussehens schwer schätzen konnte. Er war vollkommen kahl, hatte weder Wimpern noch Augenbrauen, und glich mit seiner Kleidung und der Haltung einer religiösen Statue. Er wies keine sichtbaren Verbrennungen auf, seine Haut war weder von Feuer noch von Schrapnellen versehrt – er wirkte völlig unverletzt. Neben ihm, aber nicht auf dem Podest, saßen zwei ältere Männer, die noch unterstrichen, wie wichtig er war – ein vierzehnjähriger Junge, der höher gestellt war als zwei Dorfälteste. Leo musterte den Jungen aufmerksam und sah, dass er schreckliche Angst hatte.
    Der Hauptmann wandte sich an Nara.
    – Fragen Sie, wie der Junge den Angriff überlebt hat.
    Nara übersetzte die Frage. Einer der alten Männer antwortete leise. Eine Hand begleitete seine Worte, während die andere mit der Handfläche nach oben auf seinem Schoß lag.
    – Ihr habt Bomben abgeworfen und Bäume und Felder und Menschen verbrannt. Eure Maschinen haben die Toten zurückgelassen, einige waren so schwarz wie Asche, andere sahen aus, als würden sie leben, aber in ihren Lungen war keine Luft mehr. Häuser haben gebrannt. Bäume haben gebrannt. Als sich der Rauch gelichtet hat, haben wir diesen Jungen gesehen. Das Feuer hatte ihm alle Haare genommen. Er war nackt. Aber sein Körper war unverletzt. Er war beschützt worden, barfuß ist er durch das Gemetzel gegangen, das eure Kriegsflugzeuge angerichtet haben.
    Als er ausgesprochen hatte, blickte Nara zu Leo; sie konnte die Antwort nicht übersetzen. Der Hauptmann rief:
    – Übersetzen Sie das!
    Leo gehorchte und fasste alles schnell zusammen. Der Alte sah den Hauptmann herausfordernd an und sagte auf Dari:
    – Wegen dieses Jungen werden wir euch besiegen.
    Der Hauptmann wartete nicht erst, bis Leo übersetzt hatte. Er hob seine Waffe und schoss dem Jungen in den Kopf.

Am selben Tag
    Leo stand nur da und hoffte auf ein weiteres Wunder: darauf, dass der Junge sich unverletzt erheben und beweisen würde, dass man ihn nicht mit Kugeln oder Bomben töten konnte, dass er wirklich von einer göttlichen Macht beschützt wurde. Reglos lag er auf dem prachtvoll gemusterten Teppich, auf dem Podest, ohne einen Tropfen Blut auf seinem hellen, weißen Gewand. Hauptmann Waschtschenko senkte das Gewehr. Dieser Soldat mit seinen Auszeichnungen für Tapferkeit und Mut hatte einen Jungen erschossen, um etwas zu beweisen – dass es keinen Gott gab, und wenn doch, dass sich dieser Gott nicht in Kriege einmischte. Die Afghanen hatten keine übernatürliche Macht auf ihrer Seite. Und die Afghanen kämpften gegen eine Macht an, die alles tun würde, was nötig war. All das zeigte ein einziger Schuss.
    Leo ging zu dem Podest, bückte sich und legte einen Finger an den Hals des Jungen. Sein Körper war warm, aber er hatte keinen Puls mehr. Der Hauptmann sagte:
    – Wir sind hier fertig.
    Leo kannte den

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