Agent 6
Jungen nicht. Er wusste nicht, wie er hieß oder wie alt er war. In den sieben Jahren in Afghanistan hatte er Grausamkeiten von afghanischen Kommunisten und von Widerstandskämpfern mit angesehen, von religiösen Fanatikern und von fanatischen Kommunisten – Enthauptungen, Morde, Hinrichtungen und Erschießungskommandos. Dieses Töten würde weitergehen, was er auch sagte oder tat. Der Hauptmann würde – zu Recht – argumentieren, der Junge wäre alt genug, um zu kämpfen, alt genug, um ein AK-47 zu feuern, auf einen Konvoi zu schießen, eine Bombe zu zünden. Wäre er nicht hier gestorben, dann vielleicht bei einem Bombenangriff oder indem er auf eine Mine getreten wäre. Niemand brauchte Leos Wut, mit Sicherheit nicht die Afghanen – sie hatten ihren eigenen Zorn. Dies hier war ein Militäreinsatz. Der Hauptmann hatte nicht die Nerven verloren, er hatte nicht aus Hass oder sadistischem Vergnügen gehandelt, sondern die Situation abgewogen. Der Junge war für ihre Feinde eine Art Kapital, so wie eine Ladung Gewehre. Waschtschenko hatte ein einfaches Ziel verfolgt: das Wunder zu widerlegen. Leo hatte zu viel über den Kuss mit Nara nachgegrübelt, um zu erkennen, dass das vorgebliche Ziel ihrer Mission nur ein Deckmantel für einen Mord war. Das Opium und der fehlende Schlaf hatten ihn blind gemacht.
Zwei der Soldaten spähten herein, entdeckten den toten Jungen und sahen nach, ob es dem Hauptmann gut ging. Sie hatten gewusst, wie der eigentliche Auftrag lautete. Ungeduldig scheuchte der Hauptmann Leo und Nara Richtung Tür.
– Los! Gehen wir!
Die Menge hatte die Hinrichtung zwar nicht gesehen, aber den Schuss gehört.
Wie eine Statue, die zum Leben erwachte, begann einer der älteren Männer in der Hütte zu klagen, er schrie gequält auf. Erschrocken drehte Leo sich um; anhand der Reaktion vermutete er, dass der Mann der Vater des Jungen war. Gleichzeitig eröffneten die Soldaten vor dem Haus mit kurzen Maschinengewehrsalven das Feuer. Leo, der immer noch am Boden kniete und einen Finger an den Hals des Jungen gelegt hatte, konnte von seiner Position aus sehen, wie die Menge auseinanderlief, wie die Männer wegrannten und einige fielen. Der Hauptmann ging mit erhobenem Gewehr zum Eingang und schoss durch die Tür.
In dem Durcheinander hatte Leo nicht mehr auf den alten Mann geachtet. Der Alte hatte sich hochgekämpft und kam mit einem gebogenen Messer auf Leo zu, die Klinge ragte wie eine Kralle aus seiner Hand. Er hob das Messer über den Kopf und wollte zustechen. Leos Training und sein Kampfinstinkt versagten, er war der Klinge des Mannes hilflos ausgeliefert.
Dann flog der Arm des Alten zur Seite, als würde er mit einem Seil weggerissen. Der Hauptmann hatte wieder geschossen und den alten Mann in Schulter und Bauch getroffen. Der Mann ließ das Messer fallen. Ein vierter Schuss schleuderte ihn zu Boden, nicht weit entfernt von der Leiche des Jungen. Leo blieb, wo er war, und wartete immer noch darauf, dass die Klinge seinen Hals traf. Der Hauptmann richtete das Gewehr auf den zweiten alten Afghanen, der stumm im Schneidersitz auf dem Boden saß. Der Hauptmann tötete ihn mit einem Schuss in die Brust, bevor er sich wieder dem Kampf draußen zuwandte.
Leo stand langsam auf, er war sicher, er würde stürzen, seine Beine waren so schwer wie Blei. Er fühlte sich wie im Delirium. Kerzen flackerten, Rauch waberte. Eine Explosion vor dem Haus ließ ihn wieder zu sich kommen. Bei ihrer Ankunft hatte er keine Waffen bei den Afghanen gesehen, aber offenbar hatten sie sich welche besorgt. Der Hauptmann blieb im Haus, er hatte sich hingekniet, lud nach und feuerte gezielt durch die Tür, vollkommen ungerührt von dem toten Jungen hinter sich.
Eine Maschinengewehrsalve schlug durch das Dach, die Kugeln zogen eine Spur durch den Lehmboden. Der Rauch entwich durch die Löcher, und Tageslicht fiel herein. Die Dorfbewohner feuerten von einem erhöhten Standort vom Berg aus. Während der Hauptmann in Richtung der terrassenförmigen Felder zurückschoss, rief er den anderen Soldaten Befehle zu. Dann rannte er hinaus. Eine zweite Salve durchschlug das Dach, sie traf die Leiche des alten Mannes. Leo versuchte nicht einmal, sich in Sicherheit zu bringen. Jemand packte ihn am Handgelenk. Es war Nara, sie zog ihn in den hinteren Teil des Hauses.
Sie kamen in die Küche. Dort drängten sich bei einem Lehmofen vier Frauen zusammen, neben sich einen hohen Stapel Fladenbrot, das auf die vielen Besucher des
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