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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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einem großen, hageren Mann angeführt, einer seltsamen Gestalt, die eine sowjetische AK -47 trug. Er ging zu dem verwundeten Soldaten und schoss ihm aus nächster Nähe in den Kopf. Dann wandte er sich zu Nara um, die reglos stehen geblieben war, packte sie am Arm und stieß sie neben Leo zu Boden. Das Wundermädchen wurde weggetragen. Der Anführer ragte neben Leo auf und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Befremden:
    – Warum hast du deine eigenen Leute angegriffen?
    Leo schüttelte den Kopf.
    – Ich bin kein Soldat. Ich habe nichts mit Leuten zu tun, die ein Kind töten würden.
    Der große Mann fragte:
    – Wie heißt du?
    – Ich bin Leo Demidow, Sonderberater der sowjetischen Besatzungsmacht. Wer bist du?
    – Ich heiße Fahad Mohammad.
    Leo ließ sich nicht anmerken, dass er den Namen wiedererkannte. Nara gelang das nicht. Er war der Bruder des Mannes, den sie in Kabul gestellt und getötet hatten, der Bruder des Bombenlegers, der am Staudamm erschossen wurde, und des Jungen, der im Dorf gestorben war. Fahad wandte sich an Nara.
    – Kennst du mich, Verräterin?
    Mehrere Kämpfer legten auf sie an.

Am selben Tag
    In sicherem Abstand zum Dorf blieb Hauptmann Waschtschenko stehen, um zu Atem zu kommen. Er war blass, ihm war schwindlig, und er blutete stark. Der abgerissene Stoff, mit dem er seine Wunde verbunden hatte, war durchtränkt, das Blut lief bis auf seine Hand. Es schien ihm niemand dicht auf den Fersen zu sein, und er war zuversichtlich, dass er es bis zu den Geländewagen schaffen würde. Er drehte sich um und blickte zum Dorf Sau zurück. Nara Mir und Leo Demidow wurden wahrscheinlich von den Aufständischen getötet. Aber das Wundermädchen lebte. Dass es heil davongekommen war, würde die Leute nur noch in ihrem Glauben bestärken: Sie wären davon überzeugt, dass es unter göttlichem Schutz stand – und dass die Sowjets den Krieg verlieren würden. Waschtschenko hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Fünf Soldaten waren tot. Man würde die Leichen wie Aas zerstückeln, ihre Uniformen zu Trophäen machen und ihre Waffen zur Schau stellen – Kugeln, die nicht einmal ein kleines Mädchen töten konnten.
    Im Auto war ein Sprechfunkgerät. Er würde Luftangriffe auf die gesamte Bergwand befehlen. Er würde diese satten, grünen Hügel in schwelende Asche verwandeln und jedes Haus dem Erdboden gleichmachen. Bei diesen Gedanken fühlte sich der Hauptmann schon ein wenig besser.

Provinz Nangarhar
Bezirk Rodat
Fünfzehn Kilometer südlich
von Dschalalabad
3100 Meter über dem Meeresspiegel
Am nächsten Tag
    Man hatte Leo nicht hingerichtet, aber er war alles andere als in Sicherheit. Er krümmte sich auf dem Boden einer Höhle zusammen und drückte die Hände gegen den Bauch. Die Krämpfe kamen in Wellen. Sein Verlangen nach Opium war so stark, als wäre er unter Wasser und könnte nicht atmen – wie konnte er seinem Körper verweigern, an die Oberfläche aufzusteigen? Opium war für ihn so natürlich wie die Luft zum Atmen. Sein Körper wusste nicht mehr, wie er ohne die Droge funktionieren sollte, weder physisch noch psychisch. Er hatte vergessen, wie ein normaler Mensch Stunde um Stunde existierte, wie er mit seinen Enttäuschungen und Ängsten fertigwurde. Mit der Droge hatte er Schmerz vertrieben und Trauer unterdrückt. Sieben Opiumsommer lang hatte er nichts anderes gebraucht, als am Ende des Tages den Rauch in seine Lunge zu saugen und sich zu betäuben, damit er keine Dummheiten unternahm. Er hatte seine großen Pläne aufgegeben, seine Reise nach Amerika, und das Ziel begraben, eines Tages den Mörder seiner Frau zu finden. Er hätte es vielleicht nicht zugegeben und so getan, als würde er die Reise nur aufschieben, aber in Wahrheit hatte er nichts dergleichen vor. Er lebte nur noch nach dem Zeitplan seiner Sucht und gab sich der täglichen Routine des Vergessens hin. Ohne die Droge kehrte die schmerzliche Einsicht zurück, dass er versagt hatte. Das Wichtigste und das Einzige, was er Raisa noch geben konnte – Gerechtigkeit für ihren Tod –, hatte er nicht erreicht. Stattdessen hatte er als erwachsener Mann ein Kleinkind aus sich gemacht, indem er sich in eine schützende Höhle aus Opium verkrochen hatte.
    Während Fahad Mohammad sie aus dem Tal geführt hatte, hatten die Entzugserscheinungen eingesetzt, erst langsam als sachte Erinnerung seines Körpers daran, dass er süchtig war. Als er auf die Warnungen nicht reagierte, wurden die Symptome

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