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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Wunderkinds wartete. Ein nan lag noch auf dem Feuer und war schon schwarz verbrannt. Vor lauter Angst rührten sich die Frauen nicht und ließen das Brot weiterqualmen. Direkt in der Nähe fielen Maschinengewehrschüsse. Leo hockte sich neben das Feuer, schob das verbrannte nan vom Ofen und sah erst jetzt die vier afghanischen Frauen aufmerksam an. Eine von ihnen war gar keine Frau, sondern ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Ihr Kopf war bis auf wenige Haarbüschel, die sich vor Hitze gekräuselt hatten, völlig kahl. Ihre Kopfhaut war rot und wund. Auf ihrem Gesicht und auf den Händen waren Brandwunden zu sehen. Allmählich kamen Leo Zweifel an dem, was er gesehen hatte. Wie hätte das Feuer die Haare des Jungen verbrennen können, ohne seine Haut zu beschädigen? Abgesehen von einem Wunder gab es dafür keine logische Erklärung. Leo war schon vielen Männern, Frauen und Kindern begegnet, die Katastrophen überlebt hatten, und keiner von ihnen hatte ausgesehen wie der Junge – sie hatten ausgesehen wie dieses Mädchen. Ihm wurde klar, dass man dem Jungen den Kopf geschoren hatte. Man hatte sein Aussehen verändert und ihn passend gekleidet. Wenn es wirklich nur einen Überlebenden gab, dann war es nicht der Junge, sondern dieses Mädchen. Die Dorfbewohner hatten es durch einen Jungen ersetzt, weil sie hofften, er würde zu einem Krieger heranwachsen oder zu einer Symbolfigur, die sie von Dorf zu Dorf bringen konnten. Mit einem Mädchen hätten sie das nicht tun können. Das Wunder verlangte nach einem Jungen, wenn es ihnen dienen sollte. Leo warf Nara einen Blick zu. Sie war zu dem gleichen Schluss gekommen.
    Vor dem Haus rief der Hauptmann ihre Namen.
    – Leo! Nara!
    Leo legte einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr, still zu sein. Bei dem schummrigen Licht des Ofens und hinter dem Qualm des verbrannten nans konnte er Naras Gesicht nicht erkennen. Sie zeigte keine Reaktion. Sicher begriff sie, dass der Hauptmann das Mädchen genauso umbringen würde wie den Jungen. Welches Geschlecht das Kind hatte, spielte keine Rolle.
    Der Hauptmann rief:
    – Wir gehen!
    Leo ging auf die Tür zu und winkte Nara, sie solle mitkommen. Statt ihm zu folgen, rief Nara in gebrochenem Russisch:
    – Hauptmann Waschtschenko, Sie müssen hier etwas sehen.

Am selben Tag
    Weil der Hauptmann nicht wusste, warum er gerufen wurde, und eine Falle vermutete, betrat er die Küche vorsichtig und mit erhobener Waffe. Bestürzt über Naras Entscheidung und überzeugt, sie würde die Konsequenzen nicht begreifen, versuchte Leo, sie aus dem Haus zu führen. Er bot Nara eine zweite Chance, das Mädchen zu retten.
    – Lass uns gehen.
    Leo hatte Naras Bindung an die Partei unterschätzt. Sie hatte den Staat ihm vorgezogen, hatte seinen Rat und ihre eigenen Moralvorstellungen ignoriert – die sie besaß, das wusste er. Er würde nicht zulassen, dass sie die gleichen Fehler beging wie er als Agent. Einen hatte sie schon begangen, als sie dem Deserteur und seiner Geliebten gegenüber kein Mitleid gezeigt hatte. Aber hiernach würde es kein Zurück mehr geben, sie würde sich verändern, wie Plastik, das sich in der Hitze verbog und nie wieder zu seiner ursprünglichen Form zurückfand. Sie steckte in einer tiefen Krise. Sie war der Partei und dem Staat treu ergeben. Der Staat war jetzt ihre Familie, und Leos Kuss am Abend zuvor hatte nur bestätigt, was sie schon wusste. Kein afghanischer Mann würde sie je heiraten. Sie würde allein sein, gehasst von ihren Landsleuten und beschützt nur von Männern wie dem Hauptmann. Ihr Leben hing von der Besatzung ab. Wenn die Sowjets den Krieg verloren, würde sie mit ihnen sterben. Leo hatte ihr in seiner Lage, in der er weder zu den Sowjets noch zu den Afghanen gehörte, nichts zu bieten.
    Er nahm ihre Hand und sagte:
    – Nara, wir gehen jetzt.
    Sie riss sich los, deutete auf das kleine Mädchen und sagte zu dem Hauptmann unbeholfen auf Russisch:
    – Das Kind.
    Die Ungeduld des Hauptmanns war mit einem Mal verflogen. Er ging zu dem Mädchen, beugte sich vor und musterte es. Er brauchte nur wenige Sekunden, um zu begreifen, wer sie war. Leo rief:
    – Lassen Sie sie in Ruhe!
    Er legte dem Hauptmann eine Hand auf die Schulter. Waschtschenko richtete sich abrupt auf und versetzte Leo einen Schlag mit dem Gewehrkolben.
    – Was glauben Sie wohl, warum ich hierhergekommen bin, Leo Demidow? Was glauben Sie wohl, warum ich diesen Auftrag niemandem anvertraut habe? Ich bin

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