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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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die Frau, die vor ihm saß. Er setzte sich auf und schüttete dabei Tee über seine Hände, aber er achtete nicht auf den Schmerz. Verwundert ließ er sich von seiner Frau Raisa die Stirn mit einem kalten Tuch abtupfen. Er hätte sie gern berührt, hatte jedoch Angst, dass sie nur eine Erscheinung war und flimmernd verschwinden würde. Stumm vor Freude betrachtete er ihre Lippen, als sie sprach, jedes Wort war ein Wunder. Sie sagte:
    – Versuch, den Tee zu trinken, solange er heiß ist.
    Leo gehorchte und nippte an dem süßen schwarzen Tee, ohne sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
    – Ich habe davon geträumt, wie wir uns kennengelernt haben. Erinnerst du dich noch daran?
    – Wie wir uns kennengelernt haben?
    – Ich bin an der falschen Metrohaltestelle ausgestiegen, um dich zu fragen, wie du heißt. Du hast gesagt, dein Name wäre Lena. Eine ganze Woche lang habe ich jedem erzählt, ich wäre in eine schöne Frau verliebt, die Lena heißt. Dann habe ich dich in der Straßenbahn wiedergesehen. Ich weiß nicht, warum ich so hartnäckig war, obwohl du offensichtlich deine Ruhe haben wolltest. Ich war sicher, du würdest mich mögen, und irgendwann später würdest du mich vielleicht sogar lieben. Und wenn das möglich ist, wenn jemand wie du mich liebt, wie kann ich dann ein schlechter Mensch sein? Als ich gemerkt habe, dass du mir einen falschen Namen genannt hast, war mir das egal. Ich habe mich so gefreut, dass ich nun deinen richtigen Namen kannte. Ich habe jedem erzählt, ich wäre in eine schöne Frau verliebt, die Raisa heißt. Sie haben mich ausgelacht, weil es vor einer Woche noch Lena war und jetzt Raisa. Dabei warst es immer nur du.
    Leo wagte nicht zu blinzeln und hielt die Augen angestrengt offen, als könnte sie bei einem Flattern seiner Lider aufhören zu existieren. Während er die Tasse fest umklammerte, damit er nicht nach ihren Händen griff, sagte er:
    – Es tut mir leid, dass ich es nicht nach New York geschafft habe. Ich habe es versucht. Wärst du bei mir gewesen, hätten wir die Reise gemacht, das weiß ich. Ehrlich gesagt habe ich ohne dich nie viel erreicht. Dich zu lieben war das Einzige, worauf ich je stolz war. Seit du gestorben bist, war ich als Vater nicht aufmerksam genug, und das Schlimmste ist, dass ich wieder ein Agent bin – ich tue das, was du verabscheust.
    Er begann zu weinen, und Raisas Bild verschwamm. Er rief:
    – Warte!
    Als er sich die Tränen fortwischte, sah er vor sich nicht mehr seine Frau, sondern Nara Mir.
    Nara saß lange stumm da, bevor sie fragte:
    – Deine Frau hieß Raisa?
    Leo schloss die Augen. In der Dunkelheit atmete er tief ein.
    – Meine Frau hieß Raisa.
    In den ganzen Jahren, in denen er Opium geraucht hatte, war ihm nie eine deutliche Vision seiner Frau erschienen, er hatte nie eine Halluzination erlebt, sie nie gesehen oder auch nur für einen kurzen Moment bei sich gespürt. Jetzt, ohne die Droge, war sie zu ihm gekommen. So etwas waren keine Entzugserscheinungen – im Gegenteil, das Opium hatte ihn der Welt entzogen. Nun kehrte er wieder in sie zurück.
    Langsam stand er auf. Mit einer Hand an der Höhlenwand suchte er sich den Weg nach draußen. Es war Nacht, der Mond schien hell. Vor ihm fiel der Berg steil zum Tal hin ab, und in der Ferne erhoben sich weitere Berge wie der Rücken eines schlafenden, prähistorischen Ungeheuers. In den Dörfern flackerten Feuer wie Sterne, die in Ungnade vom Himmel geworfen wurden, während die Sterne am Firmament hell funkelten, zahlreicher denn je. Nachdem Leo sich nicht mehr wie betäubt fühlte, betrachtete er das alles staunend wie ein Kind. Er hatte mit dieser Welt noch nicht abgeschlossen. Das spürte er, und er glaubte es auch.

Am nächsten Tag
    Nara sah am Eingang der Höhle zu, wie die Sonne aufging. Das Licht, das die zerklüfteten Bergspitzen in ungleiche Strahlen auffächerten, versprach einen wunderbaren Tag. Aber beim Anblick der Sonne verspürte sie weder Freude noch Hoffnung. Solange sie geflohen waren, erschöpft und gejagt von den Bomben der sowjetischen Kampfjets, hatten ihr die Zeit und die Energie gefehlt, um über ihr Tun nachzugrübeln. Seit sie in der Höhle Unterschlupf gefunden hatten, konnte sie nur noch an ihre Entscheidung denken, Hauptmann Waschtschenko zu rufen. Ihre Worte hallten in ihrem Kopf wider, ihre Stimme klang schrecklich, selbstgefällig und stolz, in ihrer Verblendung hatte sie geglaubt, sie würde dem Staat einen wertvollen Dienst

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