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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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der Parteifunktionäre Austin an, als würde sie Beifall erwarten. Aus Eitelkeit hatten die Funktionäre nicht erkannt, was ihr Gast wirklich wollte, sondern mit Überfluss geprahlt, weil sie sich ausgerechnet hatten, dass er umso beeindruckter sein würde, je mehr sie ihm zeigten. Ihre tief sitzende Angst, im Vergleich zu ihren amerikanischen Feinden als arm und schäbig dazustehen, hatte sie blind gemacht.
    Leo blieb vor Dosen mit Erbsensuppe stehen, die zu einer Pyramide aufeinandergestapelt waren. Er hatte noch nie gesehen, dass man Lebensmittel so präsentierte, und fragte sich, warum irgendjemand das beeindruckend finden sollte. Austin warf im Vorbeigehen einen abfälligen Blick auf die Pyramide, während einige Funktionäre eifrig auf exotische Obstsorten deuteten, deren Namen Leo nicht kannte. Um zu versuchen, diesen Überfluss mit der Ideologie des Kommunismus zu vereinen, hatte man die Kunden, allesamt Agenten des MGB , aus unterschiedlichen Altersklassen ausgewählt und sie in schlichte Kleidung und abgewetzte Schuhe gesteckt, als stünde Gastronom Nr. 1 jedem offen – der Großmutter genauso wie der jungen Arbeiterin. Die Mitarbeiter – Männer an der Fleischtheke, Frauen in der Obstabteilung – waren derweil angewiesen worden, Austin zuzulächeln, wenn er vorbeiging. Ihre Gesichter sollten ihm folgen, als sei er die Sonne und sie Blumen, die sich seinem Licht zuwandten. Draußen, hinter den Kulissen, zitterten weitere Kunden im Schnee. Sie sollten das Geschäft in scheinbar zufälligen Abständen betreten und den Eindruck erwecken, es würde ein normales Kommen und Gehen herrschen.
    Austins Miene wurde zusehends verdrießlicher. Er sprach nicht mehr. Die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben, die Schultern ließ er hängen, während die Kunden um ihn herum wie ein Schwarm Elstern von Gang zu Gang flatterten und alles in die Hand nahmen, was im Licht funkelte. In einem Einkaufskorb sah Leo drei rote Äpfel, eine einzelne Rote Bete und eine Dose mit eingelegtem Schinken – eine seltsame Zusammenstellung für einen Einkauf.
    Austin löste sich von der Gruppe Funktionäre und kam wieder auf Leo zu. Offenbar war er zu dem Schluss gekommen, Leo würde den einfachen Mann von der Straße repräsentieren. Vielleicht lag das an Leos grober Uniform und seiner knappen, zurückhaltenden Art. Bei der Autofahrt hatte Leo kaum ein Wort gesagt, während der Funktionär pausenlos Schmeicheleien geplappert hatte. Austin legte Leo eine Hand auf die Schulter.
    – Ich habe das Gefühl, mit Ihnen kann ich reden, Genosse Demidow.
    – Natürlich, Mr. Austin.
    – Alle wollen mir das Beste zeigen. Aber ich will die normalen Läden sehen, wo normale Leute einkaufen. Gibt es hier in der Nähe so etwas? Sie wollen mir doch nicht ernsthaft sagen, jedes Geschäft wäre wie das hier. Oder wollt ihr Leute mir das erzählen?
    Leo spürte den Druck dieser Frage, als würde sich eine Hand fest um sein Herz legen. Er antwortete:
    – Nicht alle sind so. Wir sind hier in der Stadtmitte. Dieses Geschäft hat vermutlich ein größeres Sortiment als ein Dorfladen.
    – Ich rede nicht von einem Dorfladen. Ich meine ein ganz normales Geschäft. Verstehen Sie? Das hier kann doch nicht das einzige in der ganzen Stadt sein.
    – Es gibt noch andere Geschäfte.
    – In Laufnähe?
    Bevor Leo antworten konnte, eilten die Funktionäre herbei, um ihren Gast wieder zu den Auslagen zu lotsen. Sie wollten ihm noch mehr zeigen – frisches Brot, feinste Schinkenstücke. Austin hob die Hand, als wollte er ihnen Einhalt gebieten. Er hatte sich entschlossen.
    – Mein Freund macht mit mir einen Spaziergang. Er bringt mich zu einem kleineren Geschäft, Sie wissen schon, einem etwas … normaleren.
    Die Funktionäre starrten Leo so finster an, als hätte er den Vorschlag gemacht. Sämtliche Alarmglocken schrillten bei ihnen. Plötzlich drängten sich die beiden anderen Agententeams vor und sagten zu Leo:
    – Das ist ausgeschlossen. Wir müssen uns an den Plan halten, aus Sicherheitsgründen.
    Austin zog eine Augenbraue hoch und schüttelte den Kopf.
    – Aus Sicherheitsgründen? Meinen Sie das ernst? Bin ich hier etwa in Gefahr?
    Sie saßen in der Falle. Sie konnten kaum behaupten, dass sie ihn auf den Straßen ihrer Hauptstadt nicht beschützen konnten. Austin lächelte.
    – Ich weiß, dass Sie Regeln und Vorschriften haben. Und dass Sie mir vieles zeigen wollen. Aber ich möchte mich selbst umsehen können, in Ordnung? Ich

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