Agent 6
wohl der bekannteste amerikanische Sänger, einer der wenigen, der im Radio gespielt werden durfte.
Leo wandte sich an Austin.
– Warten Sie hier. Ich sehe nach, wo das Problem liegt.
Als Leo zu Grigori lief, flüsterte der ihm zu:
– Sie haben noch nicht geöffnet!
Leo klopfte fest gegen das Ladenfenster. Der Geschäftsleiter kam aus dem Hinterzimmer gelaufen und schloss die Tür auf. Bevor Leo ihn warnen konnte, stand Austin schon neben ihm.
– Hier macht man wohl etwas später auf.
Trotz der Kälte war Leos Hemd feucht von Schweiß.
– Es sieht so aus.
Als sich die Tür öffnete, sprach Austin den Geschäftsleiter direkt an.
– Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute? Ich heiße Jesse Austin. Kümmern Sie sich gar nicht um uns, wir wollen uns nur umsehen. Machen Sie bitte weiter wie immer, und ich verspreche, dass wir Sie nicht stören!
Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund wandte sich der Geschäftsleiter Leo zu.
– Soll ich den Laden für Sie schließen?
Austin übernahm das Ruder.
– Die Leute warten hier draußen im Schnee! Lassen Sie alle rein. Machen Sie alles wie immer!
Verblüfft über die Situation trippelten die Käufer zögernd herein und bildeten vor der Theke eine zweite Schlange. Leo erklärte:
– In dem anderen Geschäft haben Sie ja gesehen, dass die Kunden gestöbert haben. Hier geht es disziplinierter zu. Die Kunden sagen den Mitarbeitern, was sie wollen. Sie bezahlen, und dann holen sie ihre Sachen.
Austin klatschte erfreut in die Hände.
– Ich verstehe. Es geht darum, was nötig ist! Sie kaufen, was sie brauchen, und nicht mehr.
Leo murmelte zustimmend:
– Genau.
In den Abschriften von Jesse Austins Reden und amerikanischen Interviews, die Leo am Abend zuvor gelesen hatte, war er auf mehrere hitzige Debatten gestoßen. Man hatte Austin vorgeworfen, er wäre auf ein gefälschtes Bild von Russland hereingefallen, das man für leichtgläubige Westler fabriziert hätte. Die Vorwürfe hatten ihn getroffen. Austin hatte sie abgestritten, aber Leo war überzeugt, dass er genau darauf achten würde, ob seine Reise zu stark gesteuert wurde. Deshalb hatten Leo und Grigori den Abend damit verbracht, mehrere kleine Geschäfte in der Nähe ihrer Route vorzubereiten. Leo hatte für den Fall eines spontanen Besuchs vorgesorgt. Sie hatten die Geschäftsleiter vorgewarnt und, wenn möglich, zusätzliche Vorräte liefern lassen, um die Regale zu füllen. Er hatte sich ausgerechnet, dass eine geschönte Version der Wirklichkeit effektiver sein konnte als künstliche Perfektion. Weil ihnen nicht genug Zeit geblieben war, jeden Laden persönlich zu überprüfen, lag ihr Schicksal in den Händen der Geschäftsleiter. Er sah sich um, kontrollierte die Regale und den Boden und merkte erleichtert, dass der Laden sauber und einigermaßen gut mit Ware bestückt war. Es gab frisches Brot und Kartons voller Eier. Die Kunden waren echt, nicht handverlesen, und ihre Freude über die unverhofft große Auswahl an diesem Tag war absolut aufrichtig.
Eine alte Frau ganz vorne in der Schlange holte sich freudestrahlend einen Karton Eier. Sie war so aufgeregt über den Kauf und so durcheinander, weil MGB -Agenten sie beobachteten, dass sie ganz fahrig wurde. Der Karton rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Austin eilte ihr als Erster zu Hilfe. Leo fing den Blick des Geschäftsleiters auf – in seinen Augen lag Angst. Etwas war nicht in Ordnung. Leo reagierte sofort. Er drängte sich an Austin vorbei, hob den Karton auf und überprüfte den Inhalt. Statt Eiern lagen sechs kleine Gesteinsbrocken darin.
Leo klappte den Karton zu und gab ihn dem Geschäftsleiter.
– Sie sind zerbrochen.
Mit bebenden Händen nahm der Mann den Karton entgegen. Austin rief:
– Moment!
Zitternd blieb der Geschäftsleiter stehen. Leo stellte sich vor, wie die sechs Steine in dem Karton rappelten. Austin zeigte auf die alte Frau.
– Sie bekommt doch eine neue Schachtel, oder? Umsonst?
Leo legte der Frau eine Hand auf die Schulter und malte sich aus, wie enttäuscht sie sein würde, wenn sie zu Hause merkte, dass sie stolze Besitzerin von sechs Steinen war.
– Natürlich.
Die meisten Funktionäre drängten sich draußen vor dem Fenster zusammen, konnten sich vor Angst kaum rühren und versuchten, etwas Abstand zu der drohenden Katastrophe zu gewinnen. Nach und nach brachten sie den Mut auf, mit sprödem Lächeln den Laden zu betreten. Austin war begeistert.
– Das ist großartig,
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