Agent 6
ging in die Hocke und drehte sich, ohne die Füße zu verschieben. Er schlang die Arme um Zabi, um sie warm zu halten. Auf der anderen Seite tat Nara das Gleiche. Ihre Hände trafen sich auf Zabis Rücken, ihre Finger lagen übereinander. Er überlegte, seine Hand wegzuziehen, aber stattdessen ergriff er ihre. Zusammengekauert warteten sie auf den Morgen.
*
Sie konnten nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. Erschöpft und fast wahnsinnig vor Kälte war es im Dunkeln schwierig abzuschätzen, wie lange sie schon hier standen. Der Wind nahm zu, er fegte wild um sie, als wollte er sie in das Minenfeld treiben. Wahrscheinlich würden ihnen bei Sonnenaufgang nur ein paar Minuten bleiben, bis die Kampfhubschrauber kamen, und dieser knappe Vorsprung reichte womöglich nicht aus. Nach dieser brutalen Nacht würden sie Mühe haben, sich schnell irgendwo in Sicherheit zu bringen.
Etwas Nasses traf Leo im Nacken. Er berührte seine Haut und spürte ein winziges Eisklümpchen. Als er nach oben blickte, landete ein zweites auf seinen Wimpern, dann ein weiteres auf der Stirn. Bald prasselte der Schneeregen aus dem Dunkeln heftig auf sie nieder, sie würden innerhalb von Sekunden durchnässt sein. Während er noch dachte, dass sie sich unmöglich bis zum Morgen warm halten könnten, verwandelte sich der Regen in Hagel, die Körner trafen sie mit solcher Wucht, dass es schmerzte. Leo spürte, wie Nara verzweifelt seine Hand fester packte. Sie hatten das Ende ihrer Reise erreicht.
Plötzlich gab es neben ihnen, nur wenige Schritte entfernt, eine Explosion – sie war klein, wie von einer Blendgranate. Leo rief:
– Was war das?
Fahad antwortete:
– Eine Mine!
Eine zweite explodierte, ebenfalls ganz nahe. Leo roch Rauch und spürte den Luftstoß. Wieder explodierte eine Mine, dieses Mal mehrere Hundert Meter von ihnen entfernt. Der Hagel löste die Drucksensoren aus. Kurz darauf war das ganze Plateau von Lichtblitzen und kleinen Rauchwolken überzogen. Als der Hagel zunahm, folgten auch die Explosionen dichter aufeinander. Es war, als stünden sie unter Mörserbeschuss. Zabi schrie auf, der Lärm machte ihr schreckliche Angst.
Als Leo die Mine direkt vor ihm einfiel, ließ er Zabi und Nara los und drehte sich hastig herum, wieder, ohne die Füße vom Boden zu nehmen. Wenn diese Mine so nah neben ihnen explodierte, würde sie alle drei verletzen. Er streckte die Hände dorthin aus, wo er sie vermutete, und schirmte sie vor dem Hagel ab. Die Eisklumpen peitschten über seine Hände. Nach wenigen Sekunden spürte er sie nicht mehr, unterhalb der Ellbogen war alles taub. Der Hagel hielt an, unter den Sturm mischten sich rings um sie herum Detonationen. Leos Arme zitterten. Diese Haltung, in der er genau den Gegenstand beschützte, der sie töten sollte, konnte er nicht mehr lange beibehalten.
Dann ließ der Hagel langsam nach und wurde wieder zu eisigem Regen. Die Explosionen wurden seltener, bis sie schließlich ganz aufhörten. Weil Leo die Arme nicht länger ausstrecken konnte, ließ er sie sinken. Er schlug die Hände gegeneinander, die sich wie abgestorben anfühlten, und versuchte, die Durchblutung anzuregen, aber seine Finger reagierten nicht. Er fror so sehr, dass ihm nicht in den Sinn kam, was der Hagelsturm eigentlich bewirkt hatte. Fahad musste erst von vorne rufen:
– Der Weg ist jetzt frei.
Konnten wirklich alle Minen zerstört sein, oder hatten die Explosionen nur aufgehört, weil der Hagel abgeklungen war? Während Leo seine Finger langsam wieder bewegen konnte, rief er Fahad zu:
– Woher sollen wir das wissen?
Fahad rief zurück:
– Weil unsere Mission von Allah gesegnet ist.
Dieser Gedanke war für Leo irrelevant. Er wusste nur eins: Falls sie völlig durchgefroren dortblieben und auf die Dämmerung warteten, würden sie mit Sicherheit sterben. Daher sagte er:
– Wir müssen es versuchen.
Nara war zaghafter.
– Wir wissen doch gar nicht, dass der Weg frei ist. Ein paar Minen sind zerstört, aber bestimmt nicht alle, vielleicht nicht einmal die meisten.
Fahad rief wütend zurück:
– Du bist eine Ungläubige! Du begreifst nicht, was hier passiert ist!
Erbost antwortete Nara:
– Mein Glaube macht mich nur nicht dumm. Ich halte mich nicht für unverwundbar.
Leo unterbrach sie.
– Es ist egal, was wir glauben. Wir können nicht hierbleiben! Morgen früh sind wir zu schwach zum Fliehen. Wir müssen weitergehen. Es ist ein kalkuliertes Risiko. Ich gehe als Erster.
Fahad
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