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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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wenig später Pakistan. Weil sie in nahezu völliger Dunkelheit unterwegs waren, konnten sie nicht erkennen, ob alle Minen detoniert waren. Die Frage, ob sie gesegnet waren oder nur Glück gehabt hatten, blieb unbeantwortet. Leo grübelte nicht allzu lange darüber nach. Als Soldat im Großen Vaterländischen Krieg hatte er Kameraden erlebt, die sich wie durch ein Wunder gerettet glaubten, nachdem eine Kugel in einem religiösen Glücksbringer stecken geblieben war; sie hatten versucht, die Bedeutung des Ganzen zu begreifen, nur um wenige Wochen später zu fallen. Aber Leo war trotz seiner Skepsis froh, dass ihr afghanischer Führer plötzlich weniger feindselig wirkte. Als die Sonne aufging und die Ausläufer des Sturms vertrieb, blieben alle vier auf der Kuppe eines pakistanischen Berges stehen und sahen hinter sich, wie in der Ferne sowjetische Kampfhubschrauber über dem Khyber-Pass ihre Kreise drehten. Wenn sie bis zum Tagesanbruch gewartet hätten, hätte man sie erwischt. Was sie auch gerettet hatte, es kam ihm zumindest wie ein Wunder vor.
    Kalt, verdreckt und erschöpft erreichten sie Darra Adam Khel, eine Kleinstadt in den nördlichen Stammesgebieten Pakistans, die als eine Art Hauptstadt eines inoffiziellen Landes fungierte. Die Region wurde als Pufferstaat ohne Gesetzgebung verkannt, dabei wurde sie in Wahrheit von dem Recht des Stärkeren und den Gesetzen des Handels regiert. Leo hätte erwartet, dass der Anblick eines sowjetischen Zivilisten mit einer Frau, einem kleinen Mädchen mit starken Brandwunden und einem Mudschaheddin Aufmerksamkeit erregen würde, aber in dieser Stadt herrschten keinerlei Konventionen: Hier scherte man sich weder um die strenge Einhaltung religiöser Vorschriften noch um die offizielle Regierungspolitik, sondern allein und unverhohlen ums Geld – Darra Adam Khel war ein einziger Basar für drei der wichtigsten Handelswaren: Drogen, Waffen und Informationen. Es ging nur darum, was man kaufen und was man verkaufen wollte. Hütten, die als Heroinfabriken dienten, verteilten sich wie Teestuben über die ganze Stadt, Säcke mit unverarbeitetem Opium wurden gegen Dollar verkauft und auf Esel geladen. Waffen wurden inspiziert und getestet, indem man außerhalb der Stadt auf Baumstümpfe schoss. Kisten mit Munition wurden begutachtet, als wären sie Schatzkisten voller Rubine und Smaragde. Man beschaffte Kriegskapital, man stahl Kriegskapital, kaufte und verriet Gefolgschaften, verkaufte geheime Informationen. Man erfand Siege und leugnete Niederlagen. Aus dem Norden strömten afghanische Flüchtlinge in die Region, viele mit schrecklichen Verletzungen, die Beine von Schrapnellsplittern aufgerissen flohen sie vor dem Krieg. Aus dem Süden kamen vereinzelt westliche Reporter und Touristen, einige in der traditionellen, weiten Bekleidung, andere in Designerhosen und mit hochtechnisiertem Gerät. Bei den wenigen Journalisten in der Stadt, die immerhin den nächstgelegenen Zugang nach Afghanistan bildete, schätzte Leo, dass der Krieg noch nicht in das Bewusstsein der westlichen Welt vorgedrungen war. Solch geringes Interesse verhieß für sein Überlaufen nichts Gutes.
    Obwohl sie Afghanistan verlassen hatten, befanden sie sich immer noch in Gefahr. Die Sowjets waren auch in den Stammesgebieten anzutreffen, sie überquerten die Grenze so häufig, dass es einer offenkundigen Missachtung der pakistanischen Staatshoheit gleichkam. Leo hatte sogar von einer Reihe verdeckter Einsätze gehört, mit denen die Region destabilisiert und auf Pakistan Druck ausgeübt werden sollte, damit es die Grenze dichtmachte und kontrollierte. Man plante extrem provozierende Maßnahmen als Strafe dafür, dass Pakistan den Mudschaheddin half, obwohl es sich offiziell als neutral darstellte. Als kommunistische Agenten sollten Afghanen eingesetzt werden, eventuell als Flüchtlinge getarnt. Einige waren sogar korrupte Mudschaheddin. Fahad konnte sich nicht vorstellen, dass sich auch nur ein Kämpfer von den Sowjets anwerben ließ. Leo erzählte ihm, dass er Listen mit Codenamen von Männern gesehen hatte, die auf der Gehaltsliste der Sowjets standen, und erklärte, dass es auf jeder Seite immer Männer gab, die sich kaufen oder erpressen ließen oder Schwächen besaßen, die man ausnutzen konnte. Fahad schüttelte angewidert den Kopf und sagte, Leo würde wie jemand aus dem Westen reden, verdorben von Kompromissen und Ungewissheiten.
    Fahad brachte sie möglichst schnell weg von der Straße und in ein chai-khana

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