Agent 6
wirst das nie erleben.
Nara drehte sich zum Fenster, um zu zeigen, dass sie nichts weiter zu sagen hatte. Sie war wütend. Leo auch. War seine Suche nach dem Mörder seiner Frau egoistisch? Steckten Hass und Verbitterung dahinter? Es kam ihm nicht so vor, aber er hätte auch nicht erklären können, wem sein Handeln sonst nutzte. Er musste herausfinden, wer Raisa getötet hatte, er hatte gar keine Wahl. Er wandte sich von Nara ab, dann saßen die beiden schweigend nebeneinander, bis der Bus sein Ziel erreichte: Teaneck.
New Jersey
Bergen County
Teaneck
Cedar Lane
Am selben Tag
Vertrocknete rote und gelbe Herbstblätter lagen zu seinen Füßen, als Leo in Teaneck auf Nara wartete, die mit ihrem Charme den Ladenbesitzern Antworten entlockte. Wie sie sich die Hauptstraße mit List und Liebreiz entlangarbeitete, zeigte, dass sie eine hervorragende Agentin abgegeben hätte. Leo fragte sich, welchen Beruf sie am Ende ergreifen würde. Er glaubte, sie hätte das Zeug zu einer inspirierenden Lehrerin, genau wie seine Frau. Ganz unerwartet kamen ihm fast die Tränen, als er über Naras Zukunft nachdachte und dabei wusste, dass er darin keine Rolle spielen würde.
Nara verließ einen Lebensmittelladen und kam zu Leo herüber. Er riss sich zusammen und fragte:
– Was erreicht?
– Yates lebt immer noch hier. Seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben.
– Hast du eine Adresse herausbekommen?
Sie zögerte.
– Leo, ich sage das noch einmal, und sei bitte nicht böse auf mich. Es wäre keine Schande, die Sache ruhen zu lassen.
– Nara, ich habe an jedem einzelnen Tag daran gedacht, was Raisa passiert ist. Für mich gab es nie so etwas wie Ruhe, und ich werde auch keine haben, solange ich nicht die Wahrheit herausgefunden habe. Ich bin müde, Nara, ich denke schon so lange daran. Ich will das haben, wovon du redest: Ich will meine Ruhe. Ich will schlafen können, ohne schweißüberströmt aufzuwachen und daran zu denken, was passiert ist. Ich muss das zu Ende bringen.
– Was willst du tun, wenn du ihm gegenüberstehst?
– Ich weiß nicht, was er sagen wird, also kann ich nicht vorhersehen, was ich tue.
Nara bekam noch größere Bedenken. Leo ergriff lächelnd ihre Hand.
– Du tust so, als würde ich etwas ganz und gar Ungeheuerliches tun. Als würde ich eine Grenze übertreten, hinter der es kein Zurück gibt. Vergiss nicht, dass so etwas für mich Alltag war. Ich habe viele unschuldige Männer und Frauen verhaftet. Ich habe für den Staat Menschen gejagt, gute Menschen, ich habe an Türen geklopft und wusste dabei über den Verdächtigen nicht mehr, als dass sein Name auf einer Liste stand.
– Würdest du das immer noch tun?
– Nein. Aber ich werde den Menschen jagen, der meine Frau getötet hat.
Leo zögerte, er fragte sich, ob Nara damit nichts mehr zu tun haben wollte.
Hast du die Adresse?
Sie blickte hinauf in den Himmel.
Ja, ich habe die Adresse.
*
Der Vorgarten war überwuchert, kniehohes Unkraut wuchs neben dichten Büschen – dieses Grundstück passte nicht in eine Straße, in der alle anderen Vorgärten tadellos gepflegt und ordentlich aussahen. Während ihm Unkraut über die Schienbeine strich, ging Leo mit Nara an seiner Seite über den zugewachsenen Weg zur Haustür. In der Auffahrt stand kein Auto. Er klopfte, dann warf er einen Blick durch das Fenster. Im Haus brannte kein Licht. Er drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen. Schnell nahm Leo einen Spanner und eine Büroklammer aus der Tasche. Nara sah ihm stumm und ungläubig zu, als könnte sie nicht begreifen, dass er für seinen Beruf als Agent der Geheimpolizei in die Wohnungen von unzähligen Verdächtigen eingebrochen war. Innerhalb von Sekunden hatte er die Tür geöffnet. Leo steckte das Werkzeug wieder ein und betrat das Haus. Einen Moment später folgte Nara ihm und schloss hinter sich die Tür.
Yates wohnte in einem großen Einfamilienhaus mit drei Etagen, Keller und Garten, dem Inbegriff des Vorstadtlebens. Aber statt behaglich zu wirken, hatte das Haus etwas Irritierendes an sich, vom verwilderten Vorgarten bis hin zu der nichtssagenden, farblosen Einrichtung mit unechten Antiquitäten und einer Glasvitrine voller Kinkerlitzchen aus Porzellan. Die flauschigen Teppichböden waren die dicksten, die Leo je gesehen hatte, wie die Mähne eines arktischen Tieres. Farblich waren sie auf die Tapeten abgestimmt, deren Muster in vielen Jahren von der Sonne ausgebleicht war. Aber ebenso wie im Vorgarten zeugte alles
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