Agent 6
sie unschuldig ist. Mein Vater hat es auf keinen Fall geglaubt, keine Sekunde lang. In den Zeitungen stand, Ihre Frau wäre Jesses Geliebte gewesen. Die Lügen wurden zur Wahrheit. Sie haben Klatsch und Verleumdungen als Journalismus verkauft. Vielleicht kannten sie die Wahrheit und hatten zu viel Angst, um sie zu drucken. Das kann man niemandem vorwerfen. Jedenfalls geriet die ganze Sache nach ein paar Monaten in Vergessenheit, jetzt ist sie nur noch ein Skandal, zu dem den meisten Leuten die Namen nicht mehr einfallen. Komischerweise haben viele verständnisvoll über Ihre Frau geschrieben. Die Leute haben gesagt, es wäre nicht ihre Schuld, sie wäre getäuscht worden. Sie hätte nur aus Russland weggewollt, und Austin hätte ihr ein Leben in Amerika versprochen. Als ihr klar geworden ist, dass sie zurückgehen musste, wäre sie verzweifelt gewesen. Diese Lüge hat Amerika geschmeichelt. Wahrscheinlich hat man es deshalb so erklärt.
Nara übersetzte. Yolande hatte Platz genommen und beobachtete nur Leos Reaktion. Als Nara ausgesprochen hatte, nahm Yolande ein Foto von ihrem Vater von der Wand, auf dem er im Restaurant arbeitete, und gab es Leo.
– Ich war vierzehn Jahre alt, als Jesse erschossen wurde. Es hat mein Leben verändert, nicht weil ich ihn kannte, sondern weil es meinen Vater verändert hat. Vorher hat er dieses Restaurant geführt, und zwar gut. Er war durch und durch Geschäftsmann. Nach dem Mord an Jesse setzte er sich für die Bürgerrechtsbewegung ein, er hat Reden und Demonstrationen organisiert und Flugblätter gedruckt. Ich habe ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Das Restaurant geriet in Schwierigkeiten, hier wurde viel diskutiert. Viele Gäste sind weggeblieben, weil sie Angst hatten, man würde sie für radikal halten. Wer keine Angst hatte und mit meinem Vater zusammengearbeitet hat, wurde für seine Hilfe mit kostenlosen Mahlzeiten bezahlt. Das Geld wurde knapp. Durch die Politik hat er Ärger mit der Polizei bekommen, sie hätten das Restaurant beinahe geschlossen. Sie haben Kontrolleure geschickt, die behauptet haben, die Küche wäre dreckig, aber das war eine Lüge, ich habe sie nämlich selbst geputzt.
Leo hatte das Foto richtig gedeutet: Yolande war als Mädchen von den Protesten mitgerissen worden, statt selbst vorneweg zu marschieren. Ihr Herz war hier, sie war mit dem Restaurant verbunden, nicht mit der damaligen Politik. Wut spielte auch eine Rolle. Sie betrachtete das Restaurant als ihr Erbe, sie hatte es geputzt, hatte gelernt, es zu führen, während andere es ihr wieder nehmen wollten. Die meiste Wut galt den ungerechten Kontrolleuren, aber ein Teil auch ihrem Vater.
– Am Ende wurde mein Vater krank, deshalb habe ich das Restaurant übernommen. Ich habe alles hier geändert bis auf den Namen, und wieder ein richtiges Restaurant daraus gemacht. Keine Politik mehr. Kein Gerede mehr darüber, wie man die Welt verändern könnte. Keine Gratismahlzeiten.
Während Nara übersetzte, beteiligte sich William an dem Gespräch.
– Mein Vater hat immer gesagt, man sollte seinen Laden ordentlich führen, seine Steuern bezahlen und fleißig arbeiten. Das sei die beste Art von Engagement.
Yolande zuckte mit den Schultern.
– Jesse hat eine Menge Steuern gezahlt, mehr in einem Jahr, als ich im ganzen Leben. Hat ihm auch nichts gebracht. Sie haben ihn trotzdem gehasst.
Sie zog eine Schublade auf und holte Zigaretten und einen gläsernen Aschenbecher in der Form eines Blattes heraus. So zögerlich, wie sie das tat, schien sie eigentlich aufhören zu wollen. Leo fragte:
– Wer hat ihn getötet?
Yolande zündete eine Zigarette an.
– Geht es Ihnen darum? Um persönliche Verantwortung? Oder um die Denkweise, die dahintersteckt?
Leo versicherte sich bei Nara, dass er die Frage richtig verstanden hatte. Für die Antwort musste er nicht lange überlegen.
– Mir geht es nur um den einen Mann. Ich kämpfe nicht gegen ein System.
Yolande nahm einen Zug.
– Wir wissen nicht genau, wer Jesse umgebracht hat. Mein Vater hat geglaubt, es wäre das FBI gewesen. Ich habe ihm nie widersprochen, aber ich habe es nicht geglaubt. Das FBI hatte Jesse längst ruiniert. Sie hatten ihm alles genommen, seine Karriere und sein Geld, sie hatten seinen Namen beschmutzt. Es ergab keinen Sinn, ihn zu töten. Vielleicht haben sie ihn so gehasst, dass sie keinen Grund brauchten, aber als Geschäftsfrau kann ich mir das nicht vorstellen.
Eine Kellnerin brachte Kaffee herein und schenkte ihnen
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