Agent 6
klopfte er mit den Füßen auf den Boden. Minuten vergingen, aber ihm kamen sie wie Stunden vor. An den Wänden hing keine Uhr, und die Wachen antworteten ihm nie. Ein Teil seiner Folter bestand darin, dass er den Verlauf der Zeit nicht abschätzen konnte. Es gab keine Fenster, er bekam nichts von der Außenwelt mit. Er hatte daraufhin nach irgendeiner Ablenkung gesucht, um nicht wahnsinnig zu werden. Unter der Decke verlief ein freiliegendes Rohr. An einer der verrosteten Verbindungsstellen trat Wasser aus, sammelte sich an der Naht und formte einen Tropfen. Wenn der Tropfen schwer genug war, fiel er zu Boden, und der Vorgang begann von Neuem. Leo zählte die Sekunden, die ein kompletter Ablauf dauerte. Dann zählte er sie wieder und wieder. Bis zu jedem Tropfen dauerte es etwa sechshundertzwanzig Sekunden, und mit dieser Zahl überschlug er, wie lange er schon wartete. An diesem Tag hatte er bis jetzt achtundvierzig Tropfen lang gewartet, gute acht Stunden.
Gestern hatte er zwölf Stunden lang dagesessen und voller Erwartung Tropfen gezählt, nur um dann zu hören, dass seine Töchter nicht kommen würden. Diese quälende Prozedur wiederholte sich jeden Tag und trieb Leo von Hoffnung zu Verzweiflung. Man hatte ihm nicht gesagt, wo das Problem lag, ob man seinen Töchtern aus Gehässigkeit keine Erlaubnis gab oder ob sie ihn nicht sehen wollten. Seine Peiniger wussten natürlich, dass Leo zwanghaft über die Möglichkeit nachgrübelte, seine Töchter hätten selbst entschieden, ihn nicht zu besuchen, und sie taten nichts, um diese ätzende Vorstellung zu mildern, die sich wie ein Tropfen konzentrierter Säure in seine Gedanken fraß.
Möglicherweise wollten seine Töchter nichts mit ihm zu tun haben. Leo konnte nicht wissen, wie sie auf sein Überlaufen oder auf seine Rückkehr reagiert hatten. Die Mädchen waren sicher böse auf ihn, weil er ihnen so viele Probleme eingebrockt hatte – man hatte sie verhaftet, verhört und ihre ganzen Familien bestraft, weil er übergelaufen war. In den sechs Monaten, die er in Amerika verbracht hatte, konnten ihr Ruf oder ihre Karrieren Schaden erlitten haben, darüber wusste er nichts. Vielleicht hatten sie auch Angst, ihn zu besuchen, und machten sich Sorgen, ihr Leben würde sich ändern. Während ihm diese Gedanken immer wieder durch den Kopf gingen, spannte sich jeder Muskel in seinem Rücken an, seine Hände verkrampften sich.
Die Tür wurde geöffnet. Leo stand auf, soweit es seine Fesseln erlaubten; seine Kehle war trocken, er hoffte verzweifelt, seine Töchter zu sehen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er in die Schatten.
– Elena? Soja?
Aus dem Dämmerlicht des Flurs trat ein KGB -Agent in den Raum und schüttelte den Kopf.
– Heute nicht.
Am selben Tag
Leo hatte eine eigene Zelle erhalten, aber nicht aus Gefälligkeit. Eher fürchtete man wohl, er könnte sich in seinem fortgeschrittenen Alter Tuberkulose zuziehen und den Prozess nicht mehr erleben, wenn man ihn in eine der Sammelzellen warf. In regelmäßigen Abständen wurde das Gitter in der Tür aufgeschoben, damit ein Beamter nachsehen konnte, ob Leo auch keinen Selbstmordversuch unternommen hatte. Seit seiner Ankunft hatte er nicht länger als dreißig Minuten am Stück geschlafen. Im Laufe der Tage hatte er das Schlafen beinahe ganz aufgegeben und lief in seiner Zelle – sie maß vier mal zwei Schritte – auf und ab, während sich seine Gedanken darum drehten, dass er seine Töchter womöglich nie mehr wiedersah.
Das Licht in der Zelle wurde eingeschaltet. Leo war überrascht. Abends kamen keine Besucher. Die Tür wurde geöffnet, dann trat ein Mann Mitte vierzig ein, begleitet von einer Wache. Leo kannte den Mann nicht, aber sein eleganter Anzug und die Schuhe ließen erkennen, dass er wichtig war, vielleicht ein Politiker. Trotz dieser äußeren Zeichen der Macht wirkte er nervös. Er konnte Leo nicht länger als eine Sekunde in die Augen blicken. Sie ließen die Tür offen, und die Wache hielt sich dicht neben dem Mann. Erst jetzt bemerkte Leo, dass die Wache mit einem Schlagstock bewaffnet war, um den Besucher zu beschützen.
Er nahm seinen Mut zusammen, um Leo direkt in die Augen zu sehen, und sagte:
– Kennen Sie mich ?
Leo schüttelte den Kopf.
– Ich könnte Ihnen meinen Namen nennen, aber er würde Ihnen nichts sagen. Der Name allerdings, unter dem man mich früher gekannt hat …
Leo wartete, bis der Mann weitersprach.
– Früher hieß ich Mikael Iwanow.
Leos erster
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