Agent 6
gemeinsames Leben aus Pflichterfüllung und Abneigung erwartete. Als Leo den Hörer gegen das Ohr drückte und gerade wählen wollte, betrachtete er das Foto und dachte an die Einzelheiten von Yates’ Geständnis. Er stellte sich Raisas letzte Minuten vor, die Schmerzen, das lange Leiden und die schreckliche Einsamkeit, in der sie auf dem Boden eines Polizeireviers verblutet war. Für ihn stand ohne jede Frage fest, dass Agent Jim Yates den Tod verdient hatte. Es wäre sentimentale Verlogenheit gewesen zu glauben, Erbarmen würde bei ihm zu einem Sinneswandel führen. Männer wie Yates bedauerten nichts. Sie waren unfähig, Reue oder Zweifel zu empfinden. Innere Einkehr und Nachdenken bestärkten sie nur in dem, was sie ohnehin glaubten. Sie konnten ihre Taten immer rechtfertigen. Leo hörte beinahe eine Stimme, die ihn rief und Gerechtigkeit forderte:
Lass ihn sterben!
Deshalb war er hier, deshalb war er so weit gereist und hatte so viel riskiert. Wie konnte er nach diesem langen Weg den Mann retten, der seine Frau ermordet hatte? Leo war nicht auf die moralische Befriedigung aus, ein besserer Mensch als sein Feind zu sein. Es würde ihn nicht stolz machen, diesen Mann zu retten. Die Wut und der Schmerz über den Tod seiner Frau waren so quälend wie an dem Tag, als er davon erfahren hatte – nach diesen Gefühlen sollte er handeln, nicht nach einem vorgefassten Begriff von Anstand. Zu wissen, was geschehen war, linderte seinen Schmerz nicht und schenkte ihm auch keinen inneren Frieden. Sein Zorn war noch genauso stark, er fühlte sich so aufgewühlt wie immer. Wenn er Yates einen traurigen, jämmerlichen Tod sterben ließ, allein in seinem Keller, wie es zu einem Mann passte, der von Hass regiert wurde, dann würde er sich vielleicht anders fühlen, vielleicht würde er dann den Frieden finden, den er suchte.
Lass ihn sterben!
Lass ihn sterben.
Nara berührte ihn am Arm.
– Leo?
Als er sich zu ihr umwandte, sah er Raisa nicht, aber sie stand genauso sicher neben ihm, wie Nara es tat. Raisa hätte Yates noch glühender gehasst als Leo. Sie hätte Yates nie verziehen, dass er Jesse Austins Tod zugelassen hatte, und auch nicht, dass er ihre letzten Worte nicht an Elena weitergegeben hatte. Sein Schweigen hatte dazu beigetragen, dass Elena sich Vorwürfe machte und eine Schuld mit sich herumtrug, die ihr Wesen verändert hatte. Trotz allem, und obwohl er diesen starken Hass spürte, war Leo überzeugt davon, dass Raisa einen Krankenwagen gerufen hätte.
Er wählte die Nummer und reichte Nara den Hörer.
– Nenn ihnen die Adresse. Sie sollen sich beeilen.
– Wohin gehst du?
– Yates helfen.
New York City
Brighton Beach
Am selben Tag
Leo saß am Strand und sah den Wellen zu, die sich am Ufer brachen. Von dem Sonnenuntergang war nur noch ein rötlicher Schimmer übrig, die Nacht vertrieb den letzten Rest des Tages. Er rollte einen glatten Stein von einer Hand in die andere, hin und her, als wäre er ein kunstvoller Zeitmesser, der bis zur Dunkelheit herunterzählte. Eines wusste er jetzt genau – die Wahrheit hatte ihm keinen Trost gebracht. Die neuen Erkenntnisse machten es nicht leichter, Raisas Tod zu ertragen. Bei Trauer gab es keinen Schlussstrich, den man ziehen konnte; man konnte nicht damit abschließen. Sie fand kein Ende. Er vermisste Raisa jetzt, an diesem Strand, ebenso sehr wie früher. Eine Zukunft ohne sie konnte er sich jetzt genauso wenig vorstellen wie in den ersten Momenten, nachdem er von ihrem Tod erfahren hatte. Der Gedanken, am nächsten Morgen ohne sie aufzuwachen, nachdem er genau das viele Jahre lang getan hatte, erfüllte ihn mit unerträglicher Einsamkeit. In Wahrheit hatte er sich mit seinen Nachforschungen sechzehn Jahre lang von der Tatsache abgelenkt, dass er nicht wusste, wie er ohne sie leben sollte. Das würde er nie wissen.
Auch wenn es vielleicht widersprüchlich klang, hatte er Raisa am Leben erhalten wollen, indem er die Geheimnisse um ihren Tod erforschte. Sein manisches Kreisen um sie hatte er als Ermittlerarbeit kaschiert. In einem ungelösten Rätsel lag Unsterblichkeit. Im Nachhinein wurde ihm klar, dass seine ältere Tochter Soja von Anfang an erkannt hatte, worum es bei seinen Nachforschungen gegangen war. Sie hatte immer gewusst, dass eine Antwort ihm keinen Trost bringen würde. Und sie hatte recht behalten. Leo hatte herausgefunden, wer seine Frau getötet hatte, er hatte herausgefunden, warum und wie sie gestorben war. Er konnte sich die
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