Agent 6
um den Hauptfeind zu beeindrucken, wurde der Überläufer Leo im modernsten sowjetischen Flugzeug auf direktem Weg von New York nach Moskau gebracht. Die sowjetische Regierung wollte der Welt beweisen, dass sie nicht in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Ungebremste Ausgaben sollten verschleiern, welche Belastung die weiter ansteigenden Kosten des Afghanistankriegs darstellten, die Leo den Amerikanern in allen Einzelheiten beschrieben hatte.
Bei den Verhandlungen über seine Rückkehr in die Sowjetunion war klar geworden, dass die Amerikaner froh waren, ihn loszuwerden. Er war ein Quertreiber, eine tickende Zeitbombe, und sie hatten die Informationen bekommen, die sie brauchten. Aus seinen Berichten wussten sie, dass eine Niederlage der Sowjets in Afghanistan ihre Feinde demütigen würde. Wenn sie den afghanischen Aufständischen Hilfe leisteten, würde Moskau mehr Truppen entsenden, und dies würde seine letztendliche und unausweichliche Niederlage politisch noch kostspieliger machen.
Was den Vorfall zwischen Leo und dem ehemaligen Agenten Jim Yates betraf, so hatte man den Angriff vertuscht. Yates hatte überlebt, der Krankenwagen war noch rechtzeitig eingetroffen. Seine Enthüllungen würden nie an die Öffentlichkeit gelangen. Die Geschichtsbücher waren geschrieben und würden nicht geändert werden; die Lügen standen eingemeißelt in Enzyklopädien und Lehrbüchern. Den Schuss auf Yates in seinem hübschen Vorstadthaus in Teaneck hatte man auf einen bewaffneten Einbrecher geschoben, auf einen zufälligen Raubüberfall, der schiefgelaufen war. Leo hatte den amerikanischen Behörden versichert, dass er keine weiteren Probleme verursachen oder sich nicht näher zum Tod von Jesse Austin äußern würde, solange Nara und Zabi nichts geschah. Man hatte einen Schweigepakt geschlossen. Es verschaffte Leo eine gewisse Befriedigung, dass man den Schuss auf Yates aus Gründen der Zweckdienlichkeit ebenso verschleierte wie den Mord an Austin. Obwohl Yates eingewilligt hatte, bei der Geschichte mitzuspielen, hatte er Lokalreportern gegenüber betont, er könne sich nur noch daran erinnern, dass der Eindringling schwarz gewesen sei.
Von der sowjetischen Regierung hatte Leo lediglich eine Garantie erwirken können – wenn er zurückkehrte, würde man die Strafmaßnahmen gegen seine Töchter einstellen. Leo hatte darum gebeten, Soja und Elena innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seiner Landung sehen zu dürfen. Aber in seiner Position konnte er keine Bedingungen stellen. Seine Schuld stand außer Frage. Er hatte dem Hauptfeind vertrauliche Informationen mitgeteilt und sollte wegen Hochverrat angeklagt werden, wobei der Schuldspruch bereits feststand. Als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzte, versuchte Leo sich vorzustellen, was in den letzten acht Jahren geschehen war, seit er Moskau verlassen hatte – in den acht Jahren, die er im Leben seiner Töchter und ihrer Ehemänner verpasst hatte. Bei dem Gedanken an die Briefe von seinen Töchtern merkte er plötzlich, dass er keine Angst davor hatte, in eine Stadt voller Erinnerungen an Raisa zurückzukehren. Etwas hatte sich verändert. Leo freute sich. An diesem Ort hatte er sich verliebt. Hier würde er seiner Frau näher sein als in jedem anderen Moment, in dem er ihren Tod zu klären versucht hatte. Als die Räder den Boden berührten, schloss er die Augen. Leo war zu Hause.
Moskau
Butyrka-Untersuchungsgefängnis
Nowoslobodskaja uliza 45
Eine Woche später
An Armen und Beinen so eng gefesselt, dass er sich sogar im Stehen bücken musste, wartete Leo bereits seit Stunden in einem uralten Verhörraum. Er war im Butyrka-Gefängnis gelandet, das bereits seit seiner Einrichtung vor hundert Jahren für seine Brutalität berüchtigt war. Solche Situationen hatte er unzählige Male beaufsichtigt: die erniedrigenden Fesseln, die einschüchternde Atmosphäre und der psychologische Druck, von Wachleuten in zwei Ecken des Raums beobachtet zu werden. Man hatte ihm nicht mit Gewalt gedroht. Stattdessen hatte man eine viel raffiniertere Folter als körperliche Schmerzen angewandt.
Leo verbrachte den siebten Tag in Moskau, und er hatte seine Töchter immer noch nicht gesehen. Er hatte nicht mit ihnen telefoniert und keinen Ton darüber gehört, wie es ihnen ging. Jeden Morgen beim Wecken sagte man ihm, seine Töchter würden ihn an diesem Tag besuchen. Man brachte ihn stets in denselben Verhörraum und sagte ihm, seine Töchter würden bald eintreffen. Ungeduldig wartend
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