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Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Titel: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesper Juul
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erwachsen werden. Die Tatsache, dass jeder Mensch eine Rolle übernommen hat, impliziert nicht notwendigerweise, dass jeder wie ein Schauspieler leben und arbeiten muss.
    Eine letzte Bemerkung zu Frauen, die als Erzieherinnen, Lehrerinnen, Pädagoginnen tätig sind und die heute aggressive Kinder aus Gruppen, Institutionen und vom Familientisch ausschließen – sie wiederholen das extrem unterdrückende (d.h. aggressive) Verhalten, das vor hundert Jahren in psychiatrischen Anstalten verbreitet war. Damals wurde jede Frau, die es sich herausnahm, ihre Wut, ihren Zorn oder ihre Frustration auszudrücken, mit der Diagnose »Hysterie« versehen – Männer übernahmen das und kategorisierten sie. Mein Rat an diese Frauen: Tretet nicht in dieselben Fußstapfen! Steht für euer Recht auf Widerstand, persönliche Autorität und eure berechtigte irrationale Wut ein!
    Nachdem ich die optimalen Bedingungen für geistige Gesundheit beschrieben habe, könnte sich der eine oder andere fragen, ob ich der Ansicht bin, dass sich jede psychische Störung auf dysfunktionale persönliche wie soziale Beziehungen zurückführen lässt. Um aufrichtig zu sein – ich bin mir nicht sicher, doch will ich an dieser Stelle keine lange Debatte über dieses Thema anstoßen. Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren mit einer amerikanischen Diplomatenfamilie gearbeitet habe – mit der Mutter, dem Vater und den drei Söhnen, die in der Pubertät waren. Der Mutter hatte die Psychiatrie die Diagnose »Depression« verpasst, es wurde ihr Prozac verschrieben, ein Mittel, das sich bereits nach wenigen Wochen positiv auf ihr Gemüt auswirkte. Der Vater meinte: »Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Schuld diese Tatsache von meinen Schultern nahm!« Die beiden waren schließlich so begeistert von der Wirkung des Wundermittels, dass die ganze Familie Prozac zum Frühstück einnahm – als Präventionsmaßnahme. Den mentalen Zustand des Psychiaters, der hinter diesem Vorgehen steckte, habe ich damals nicht hinterfragt.
    Was ich allerdings festgestellt habe, ist, dass Menschen, die an einer offiziell anerkannten psychischen Krankheit leiden, immer von einer emotional offenen und gesunden Umgebung profitieren. Dasselbe gilt für deren Partner, Eltern, Kinder und Geschwister in Phasen, in denen sie damit fertig werden müssen, dass eines ihrer Familienmitglieder zeitweilig psychisch nicht gesund ist, eine chronische Krankheit oder Störung aufweist. Selbstverständlich ist es interessant und wichtig, den Ursprung der Verhaltensweisen herauszufinden, die zu einer klaren Diagnose führen. Doch egal, ob dysfunktionale Beziehungen in der Familie auszumachen sind, ob das Umfeld vergiftet oder ob die Krankheit genetisch bedingt ist – eines steht fest: Emotional warme und authentische Beziehungen tun nicht nur dem »Patienten« gut, sie sind für alle beteiligten Personen und die Qualität ihrer Beziehungen ausschlaggebend.

II. Wir wollen keine Gewalt!
    Die Idee, dass wir keine Gewalt in unseren Familienhäusern und unseren Institutionen wollen, ist in der Tat keine schlechte – ich unterstütze sie gerne. Vielleicht wäre es aber präziser zu behaupten: Wir wollen keinen Krieg und lehnen deshalb die Ausübung von Gewalt dezidiert ab. Unglücklicherweise haben wir damit jedoch auch jedes andere Verhalten aufgegeben, das vermeintlich einzig von Aggression gespeist ist.
    Die Idee hat zwei Haken. Der eine besteht in der Analyse, die zu dem falschen Schluss führt: Wir wollen keinen Krieg; da Gewalt zu Krieg führt und Aggression zu Gewalt, distanzieren wir uns von der Aggression und machen aus ihr ein Tabu.
    Der Gedanke, dass Gewalt zu Krieg führt, ist nur zum Teil wahr. Gewalt ist ein essentieller Teil von Kriegsführung, aber Krieg an sich wird von politischen Ambitionen, Gier und Propaganda gespeist. In ähnlicher Weise ist Aggression ein Bestandteil von Gewalt, doch rührt gewalttätiges Verhalten nicht nur von aggressiven Emotionen her. Sie sind bloß das Vehikel, um wichtige Botschaften zu transportieren. Davon kann sich jeder überzeugen, der mit Hunderten junger Männer zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren spricht, die notorisch gewalttätig (in einem grausamen und kaltblütigen Sinn) sind – sie schlagen auf unschuldige Menschen in U-Bahnhöfen ein, sie verstehen sich als Skinheads oder Neonazis, sie verlieren die Kontrolle über sich und schlagen in alkoholisiertem Zustand ihre Partnerinnen und Kinder.
    Ein Großteil dieser jungen

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