Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Wirklichkeit?« Die Frustration des Mädchens wird sich auflösen und so auch ihr Bedürfnis, jemanden zu beißen, denn was sie will, ist, lediglich zu kommunizieren, dir aber ist es mit deiner Botschaft gelungen, das Mädchen ein- und nicht aus zuschließen.
Die Tabuisierung der Aggression hat einige wenige Eltern mobilisiert, ihre Verantwortung darin zu sehen, Kinder vor jeder Frustration, jedem Schmerz, jeder Traurigkeit und insbesondere vor unangenehmen Erfahrungen zu bewahren – ich nenne sie die »Helikopter-Mütter und Helikopter-Väter«. Diese Eltern befinden sich auf einem sehr speziellen Ego-Trip, der den Kindern vorenthält, grundlegende Lebensfertigkeiten zu erlernen. Arbeitest du beruflich mit Kindern, kannst du auf die zahlreichen Beschwerden und moralischen Aufschreie solcher Eltern lediglich antworten, indem du ihnen mitteilst, dass es ganz normal sei, wenn sich zwei- oder dreijährige Kinder so verhalten – ja, es könne sogar sein, dass ihre kleine Tochter morgen oder übermorgen möglicherweise auch ein anderes Kind beißen wird.
Als Elternteil des sogenannten Aggressors solltest du die Eltern des »Opfers« anrufen. Hör ihnen zu und bleib ruhig, egal, womit sie dich oder dein Kind angreifen oder beschuldigen. Und wenn sie anfangen, sich zu wiederholen, beende das Telefonat mit folgender Bemerkung: »Es tut mir aufrichtig leid, und ich werde mit meiner Tochter darüber sprechen. Danke für das Gespräch!« Die meisten »Helikopter-Eltern« leben in einem Widerspruch: Sie wollen nicht, dass ihr Kind von irgendjemandem verletzt wird, gleichzeitig jedoch beschimpfen sie unentwegt Menschen, die sie als »Gewalttäter« empfinden.
Erwachsene genießen sehr, dass sich Kinder heutzutage so gut ausdrücken können. Das ist allerdings unglücklicherweise manchmal für Eltern und Lehrer irreführend, da sie glauben, dass die Kinder von dem, was sie sagen, auch ein tieferes Verständnis haben. Das ist sehr selten der Fall. Tatsache ist, dass Kinder Werte und Grenzen von Eltern, Institutionen und Gesellschaft allmählich, Schritt für Schritt, bis zum Alter von fünf Jahren integrieren. Im Fall der Aggression und ihrer Ausdrucksmöglichkeit hängt das Tempo sehr stark davon ab, wie Eltern und Verwandte damit umgehen. Kurz und knapp: ob dem Kind im Familienkreis Vorbilder geboten werden und zugänglich sind, um von deren Verhalten zu lernen, oder ob das nicht der Fall ist.
Maria Arts, meine geschätzte Kollegin, die dänische Familientherapeutin und Begründerin von Marte Meo, arbeitet ausschließlich mit Videos. In einer ihrer aufklärenden und bewegenden Arbeitsproben zeigt sie einen fünf Jahre alten Jungen, der das Spiel der anderen, an dem er aber gerade auch teilnimmt, aggressiv unterbricht. Sein Vater nimmt an Rodeos teil, er ist stark, schnell und gewohnt, Verantwortung zu tragen; will man ihn einordnen, so gehört er eher zu den Machos. Dieser Vater wurde beim Spielen mit seinem Sohn gefilmt. Und es stellte sich heraus, dass er auch beim Spielen mit seinem Sohn führen und die Kontrolle übernehmen wollte. Auf diese Weise bin ich ein guter Vater, dachte er. Zwar war ihm aufgefallen, dass sein Sohn ihn verlässt, somit das Spiel abbricht, aber das stimmte ihn bloß traurig und unsicher bezüglich seiner eigenen Qualitäten als Vater. Als er endlich gelernt hatte, auf die Einladung seines Sohnes zu warten, und ihm die Initiative überließ, konnten sie plötzlich stundenlang miteinander spielen – das hat das Verhalten des Sohnes im Kindergarten verändert, er konnte plötzlich mit anderen Kindern in einer sozial verträglichen und kooperativen Art spielen.
Viele Jungen haben mit ihrer Aggression Probleme, weil ihre Väter entweder abwesend sind oder eher einen weiblichen Stil im Umgang mit ihren Söhnen pflegen. So kommt es, dass diese Jungen nie gelernt haben, ihre männliche Energie zu integrieren und sie in konstruktives Verhalten umzusetzen. Es ist schon fast eine brutal zu nennende Ironie, dass gerade diese Jungen von Frauen (Erzieherinnen, Lehrerinnen, Pädagoginnen) moralisch verurteilt und psychologisch stigmatisiert werden, anstatt ihnen mit traditionell weiblich konnotierten Tugenden wie Verständnis, Empathie, Mitgefühl und Fürsorge zu begegnen und ein aktiver, verantwortlicher Versuch gemacht wird, deren Väter zu mobilisieren.
Was den speziellen Vater aus obigem Beispiel betrifft: Selbst bevor sein Sohn in Schwierigkeiten geriet, wollte dieser Vater einfach nur mit seinem Sohn
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