Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Männer ist selbst Opfer eines physischen, verbalen, emotionalen oder sexuellen Missbrauchs, der geringere Teil Opfer seelischer Vernachlässigung – das bedeutet, dass Letztere in Familien aufgewachsen sind, in denen eine intakte, schillernde Fassade das Wichtigste war, so dass sie aufrichtige und echte Emotionen nie kennengelernt haben, folglich mit ihren eigenen auch nicht umgehen können. Dies ist keine Entschuldigung für ihr Verhalten, aber eine plausible Erklärung. Wir lesen von solchen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen in den Zeitungen und beten tagtäglich, unsere Kinder und jene, für die wir verantwortlich sind, mögen nicht so werden wie sie.
Ich komme nun zum zweiten Haken: Unsere Denkweise ist zwar vernünftig und solide, trotzdem machen wir einen gravierenden Fehler, der das Aggressionstabu verfestigt. Der Fehler ist, dass wir Aggression und aggressive Gefühlsausbrüche verbieten; wir verbieten alles, was wir als aggressives und gewalttätiges Verhalten bei Kindern und Jugendlichen betrachten. Wir meinen auf diese Weise der sinnlosen, unbegründeten Gewalt, vor der wir uns zu Recht fürchten, zuvorzukommen. Indem wir mit einem moralischen Tabu der Gewalt vorbeugen oder ihr Einhalt gebieten wollen, nähren wir jedoch beides – gewalttätiges wie selbstdestruktives Verhalten. Im Kapitel III werde ich versuchen, die Logik dieses Vorgangs zu erklären.
Wie definieren wir Aggression, wie Gewalt?
Es ist gleichermaßen interessant und erschreckend, wie viele verschiedene Verhaltensweisen unter Aggression oder Gewalt eingeordnet werden und wie viele nicht. Hier der Brief einer skandinavischen Mutter:
»Gestern haben wir eine Mitteilung aus dem Kindergarten meiner Tochter erhalten, in der wir informiert wurden, dass unsere zweieinhalbjährige Tochter in der vergangenen Woche ein gleichaltriges Mädchen zweimal gebissen habe. Die Mutter des Mädchens habe sich beschwert. Jetzt will man von uns eine schriftliche Einverständniserklärung, damit unsere Tochter an einen Psychologen überwiesen werden kann, um ihre ›soziale Kompetenz‹ zu prüfen. Wir sind verwirrt und können das Problem nicht verstehen. Können Sie uns helfen?«
Meiner Meinung nach läuft hier die Anti-AggressionsKultur Amok!
Es passt perfekt zu der gesunden Entwicklung eines Kindes, wenn ein zwei bis drei Jahre altes Kind ein anderes Kind oder die Eltern beißt, stößt und schlägt. Ungefähr 80 Prozent der Bisse sind »Liebesbisse«, selbst wenn sie manchmal weh tun oder gar Spuren von Zähnchen in der Backe oder am Unterarm hinterlassen. Dieses Tun hat absolut nichts mit Gewalt zu tun, obwohl der Impuls von einer der vielfältigen Emotionen gespeist wird, die wir Aggression nennen. Bisse und kleine Fäuste, die Vaters Schulter oder Mutters Oberschenkel heftig bearbeiten, sind Zeichen der Frustration, die das Kind in dieser Entwicklungsphase jeden Tag stündlich erfährt: Das ist der innere Konflikt, der an die Oberfläche dringt, wenn das Kind tausendmal schneller und komplexer denkt, als es sich in mündlicher Sprache auszudrücken vermag.
Im Alter von zwei oder drei Jahren denken Kinder noch immer, dass Eltern Götter sind, und erwarten, von ihnen ganz und gar verstanden zu werden. Wenn das Kind die feine Muskulatur der Stimmbänder noch nicht angemessen betätigen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf die größeren, leichter zu handhabenden Muskelgruppen zurückzugreifen, die es aus seiner Säuglingszeit kennt. Das ist verständlich! Wenn eine Mutter auf die Frustration ihres Kindes mit den Worten reagiert: »Hör auf! Das gefällt mir nicht!«, ist das in Ordnung. Die angemessenere Reaktion wäre, zu sagen: »Ich würde mir auch wünschen, wenn ich dich besser verstehen könnte, aber im Moment verstehe ich dich nicht. Bitte, atme tief durch und sag mir, was du willst!«
Geht ein Kind mit seinen eben erst gewachsenen Zähnchen auf ein anderes los, dann sollte man es freundlich fragen, was es will. Entweder will es dem anderen Kind seine Liebe und Bewunderung ausdrücken oder seine Wut über etwas, was sein Gegenüber getan hat und ihm nicht behagt.
In meinem Buch »Grenzen, Nähe, Respekt. Wie Eltern und Kinder sich finden« [6] beschäftige ich mich hauptsächlich damit, wie Konflikte zwischen Erwachsenen und Kindern gelöst werden können. Diese Frage ist deshalb so wichtig, weil die Art, wie Konflikte gelöst werden, den Grundstein für eine sinnvolle, persönliche Kommunikation liefert.
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