Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
einer echten persönlichen Sprache oder in abgedroschenen Phrasen ausgedrückt werden. Das wird sich am Beispiel des Menschen entscheiden, der Vorbild des Kindes ist. Ein Kind, das in einer Familie aufwächst, in der Liebe an Bedingungen geknüpft ist und Mitgefühl nicht existiert, wird nicht in der Lage sein, echtes Mitgefühl auszudrücken. Kinder müssen immer als Empfänger von Emotionen gesehen werden, um seelisch gesunde Erwachsene zu werden.
Dieselben Regeln gelten für die sogenannten aggressiven Gefühle: Irritation, Frustration, Wut, Zorn und Hass.
Ein Beispiel:
Wenn ein zweijähriges Mädchen in seiner Frustration, nicht verstanden worden zu sein, mit ihren Fäustchen auf die Brust seiner Mutter hämmert und dabei gleichzeitig »doofe, doofe, doofe Mama« schreit, kann es zu ganz unterschiedlichen Reaktionen seitens der Mutter (und des Vaters) kommen:
Die Mutter hält ihr Kind zwischen ihren Armen, schaut freundlich und direkt in dessen Augen und sagt: »Oje, oje, bist du aber wütend! Ich wüsste gerne, was dich so ärgerlich gemacht hat. Kannst du mir das sagen?« Worte, Haltung und Körpersprache der Mutter senden eine äußerst konstruktive Botschaft aus: Egal, worüber du dich so geärgert hast, ich bin da für dich! Gleichzeitig verwendet sie zwei Begriffe – Wut und Ärger – und das ist für ihre Tochter ein Geschenk: Die Mutter liefert ihr Wörter, die den Ursprung ihrer Frustration präzise beschreiben – das macht es der Tochter leichter, ihren Zustand mit den beiden Wörter zusammenzubringen.
Die Mutter legt die Hände auf die Schultern des Mädchens und stößt es von sich weg. Sie schaut es verärgert an und sagt: »Hör auf, mich zu schlagen, und sprich nie wieder so mit mir!« Das ist die Reaktion einer Mutter, die mehr mit ihren eigenen Grenzen beschäftigt ist als mit dem Wohlergehen der Tochter und dem augenblicklichen Konflikt zwischen den beiden. Es gibt ein Wohl ergehen und ein Wohl erzogen , und diese Mutter setzt auf Letzteres. Das wird der Tochter nicht schaden, sie wird sich bloß eine Weile einsam fühlen. Wahrscheinlich wird ihr Hämmern noch heftiger und ihre Schreie noch lauter, doch dann wird sie resignieren. Sie wird einiges mehr über die Grenzen ihrer Mutter wissen, jedoch nichts über sich selbst erfahren.
Die Mutter umarmt ihre Tochter und hält sie, bis sie sich beruhigt hat, und sagt währenddessen: »Es ist in Ordnung, wütend zu sein, mein Liebling. Aber wir dürfen uns nicht gegenseitig schlagen und beschimpfen, weißt du. Mama liebt dich, aber es verletzt Mama, wenn du sie schlägst, wir wollen das nicht, nicht wahr?« Diese Mutter hat eine Mission: Sie handelt im Namen des Tabus und versucht, sich vorbildlich zu verhalten – kein gewalttätiges Verhalten. Sie distanziert sich während des Ablaufs, indem sie von sich in der dritten Person spricht, und das entspricht der Tatsache, dass sie eher von der Warte einer Idee oder Ideologie aus spricht, ihre Sprache kommt nicht aus ihrem Körper. Stellt man sich nun dieselbe Szene vor, allerdings zwischen zwei Erwachsenen in einer Liebesbeziehung, weiß man, wie sich das Mädchen fühlt. Man ist frustriert (traurig und wütend) und erhält als Antwort einen Vortrag. Wie berechtigt auch immer die Intention der Mutter sein mag, wie oft auch immer sie der Tochter ihre Liebe kundtut, sie vermittelt ihr das Gefühl, weniger wertvoll zu sein, und das Temperament des Mädchens wird entscheiden, wie sich die künftigen Begegnungen zwischen ihr und der Mutter entfalten. Auch dieses Kind wird am Ende zwar mit den Überzeugungen der Mutter vertraut sein, doch ihre Chance, innerlich zu reifen, ist vertan.
Die Mutter schaut ihre Tochter mit traurigen, beunruhigten Augen an und sagt: »Es macht Mama so traurig, wenn du sie doof nennst. Ich möchte keine doofe Mama sein, ich möchte die beste Mama der Welt sein!« Es gibt keine selbstbesessenere und egozentrischere Antwort als diese! Die Absicht mag zwar sein, das Mädchen zu überzeugen, ihren Ausbruch von Frustration zu beenden, schließlich macht sie damit die Mutter traurig (Traurigkeit und Enttäuschung haben eine lange Tradition der Tarnung mütterlicher Aggression hinter sich), aber gleichzeitig ignoriert diese Mutter völlig die Emotionen ihrer Tochter – und das vermittelt die Botschaft, sie seien für die Mutter von keiner Bedeutung oder keinem Wert. Im Gegenzug wird dies wiederum noch mehr aggressives Verhalten seitens der Tochter hervorrufen. Und auch dieses Mal ist
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