Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
sagen, dass er jetzt groß ist und das wissen müsste. Die moralische Schuldzuschreibung macht ihn schlecht, und indem die Eltern betonen, dass er »groß« ist – aber sich so verhält wie ein Baby –, macht man ihn ein weiteres Mal schlecht, wenn auch indirekt. Dieser Ablauf ist so beschaffen, dass er zwangsläufig zu noch mehr Aggression führt! Doch so lief der Vorgang ab, zumindest manchmal, zu Zeiten, als Eltern ihre moralische Überlegenheit durch physische und/oder verbale Gewalt zum Ausdruck brachten.
In der Logik des Aggressionstabus ist angelegt, dass Erwachsene lediglich aggressive Kinder als moralisch minderwertig betrachten und versteckte Drohungen formulieren: »In unserer Familie darf keiner den anderen schlagen; es ist böse, die kleine Schwester zu verletzen.« Der moralische Konsens wird in dem ersten Teil des Satzes unterstrichen, und dann folgt eine Drohung, die dem grundlegenden Bedürfnis eines jeden menschlichen Wesens gilt: dazuzugehören. Wenn du das noch mal tust, gehörst du nicht mehr zu uns! Damit wird der Junge alleingelassen, er wird sich minderwertig fühlen – für seine Familie ist er kaum wertvoll.
Dem Aggressionstabu auf diese Weise Tribut zu zollen beugt aggressivem Verhalten nicht vor, sondern zieht es regelrecht nach sich – im selben Augenblick, am nächsten Tag, im darauffolgenden Jahr oder wenn der Junge selbst Vater wird. Immer wieder und wieder beobachten wir, wie die fast unscheinbaren, mit Moral zugefügten Wunden in Kindern Zeitbomben erzeugen, die wahrscheinlich in deren zweiter Liebesbeziehung hochgehen (die erste Liebesbeziehung ist die zu den Eltern).
Jede Kultur hat ihre bevorzugten und verbotenen Emotionen, dabei ist nicht unbedingt die geistige Gesundheit normgebend. Das heißt, jede Kultur bringt Opfer und Außenseiter hervor. Das Tabu gegen Aggression durchzieht allmählich immer mehr Kulturen, und die Anzahl von Opfern steigt rapide – insbesondere unter Kindern und Jugendlichen.
Kinder werden mit einer Palette von vielen unterschiedlichen Emotionen geboren, die sie offen und direkt ausdrücken, um ihren Eltern ihre Bedürfnisse und Grenzen aufzuzeigen. Ihre emotionalen Reaktionen haben immer einen Sinn, wenn man sie im Kontext der Beziehung betrachtet, jedoch sind diese Reaktionen nicht immer leicht zu entschlüsseln und zu verstehen. Diese Tatsache ist vielleicht die bedeutendste Entdeckung der Entwicklungspsychologie. [12]
Um ihre Emotionen zu integrieren und sie konstruktiv in der Kommunikation mit anderen einsetzen zu können, müssen sie in der Lange sein, sie auszudrücken und alle Rückmeldungen, die sie aus ihrem nächsten Umfeld erhalten, zu sammeln. Auf diese Weise werden sie ganz selbstverständlich von dem Verhalten ihrer Mitmenschen geprägt, ohne dass Erwachsene dabei einen pädagogischen Kraftakt vollziehen müssten.
Die grundlegenden Emotionen, mit denen Kinder zur Welt kommen, werden manchmal auch die »groben« Emotionen genannt, und über deren Anzahl gibt es verschiedene Meinungen. Im Zusammenhang dieses Buches und seiner Botschaft ist diese Problematik allerdings nicht besonders wichtig.
Hier ist meine Liste:
AGGRESSION
ANGST
SEXUALITÄT
LUST
LIEBE
Sollte sich jemand wundern, dass auf meiner Liste Empathie fehlt, erfährt er jetzt, dass für mich Empathie keine Emotion ist. Empathie ist eher eine emotionale Fähigkeit oder Fertigkeit, die es uns ermöglicht, uns in die Emotionen, Gefühle und Reaktionen anderer Menschen zu versetzen. Die Entwicklung von Empathie spielt allerdings eine große Rolle, wie ich weiter unten zeigen werde.
Um zu reifen, nuancierter und vollkommener zu werden, müssen diese grundlegenden oder groben Emotionen in der Beziehung zu anderen Menschen zum Einsatz kommen. Nur wenn Kinder die Möglichkeit und eine feststehende Einladung haben, beispielsweise ihre Liebe auszudrücken, und sie darauf eine relevante und empathische Rückmeldung erhalten, nur dann kann ihre Liebesfähigkeit sich weiterentwickeln und differenzieren in: Liebe zu den Eltern, zu einem Freund, zum Großvater, zum Teddybären, zur Katze, zum Lehrer, und in Mitgefühl, Sorge, Anerkennung, Verliebtsein und spirituelle Liebe.
Für jedes aufwachsende Kind ist die optimale Bedingung dann gegeben, wenn alle diese nuancierten Gefühle direkt aus ihrer emotionalen Quelle herrühren und nicht forciert zustande kommen. Mitgefühl kann eine spontane emotionale Reaktion, aber auch eine kulturell oktroyierte Pflicht sein. Mitgefühl kann in
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