Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
die Tochter um die Gelegenheit gebracht worden, mehr über sich zu erfahren und dabei zu reifen.
Die Mutter greift nach den Oberarmen der Tochter, schüttelt sie und sagt mit einer lauten, aggressiven Stimme: »Sag mir nie wieder so etwas! Du bist ein schlechtes Mädel, und jetzt geh in dein Zimmer, bis du bereit bist, dich bei mir zu entschuldigen! Geh!« Um so einem wuchtigen Widerstand zu begegnen, muss man als kleines Mädchen extrem fit und resolut sein. Höchstwahrscheinlich wird sich ein Muster in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter entwickeln: Die Tochter hat immer wieder ihre »Wutanfälle« und muss hinterher die doppelte Demütigung erleiden, nicht wahrgenommen und zudem gezwungen zu werden, sich zu entschuldigen. So etwas hinterlässt beim Kind überhaupt kein Gefühl von Wert – egal, wie sehr es gelobt wird, wenn es »gut« ist. Seine Aggression wird ausgelagert und außerhalb der Familie ausgelebt in der Hoffnung, dass irgendjemand ihm zuhören wird. Und um die Pubertät herum wird seine Beziehung zur Mutter sich in einen Dritten Weltkrieg verwandeln, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Jugendliche über einige Jahre ein ziemlich gefährliches Verhalten an den Tag legen. (Warum sollte man sein Leben nicht riskieren, wenn es keinen Wert hat?) Die Mutter schlittert von einem Schock in den nächsten, kann aber den Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Tochter und ihrem eigenen keineswegs erkennen. Alles, was sie versucht hat, war, ihrem Kind eine anständige Ausdrucksweise und gute Manieren beizubringen.
Ersetzen wir das kleine Mädchen aus diesem Beispiel durch einen Jungen, stoßen wir auf ähnliche Reaktionen seitens der Mütter – häufig gewürzt mit der Angst der Mutter, der Sohn könnte so werden wie sein gewalttätiger Großvater oder ihr eigener Ehemann, der Schwierigkeiten hat, sein Temperament zu zügeln, und/oder mit der Angst, dass der Junge von seinen Erzieherinnen nicht gemocht wird.
Wenn Kinder vier bis sieben Jahre alt sind und sie ihre Eltern und Freunde mit Wutausbrüchen konfrontieren, ist es auch in diesem Fall kontraproduktiv, sie zu beschuldigen, doch es ist dann an der Zeit, einen genauen Blick auf ihr Leben zu werfen einschließlich der Möglichkeiten, wie man mit Frustration und Konflikt oder mit Trauer und Traumata zurechtkommt. Wir können nie haargenau wissen, was in ihrem Leben geschieht oder nicht geschieht, aber wir können ihre Einladung annehmen.
Die echten Rabauken
Dasselbe gilt für Kinder, die sich ohne Ankündigung oder Provokation aggressiv verhalten, und zwar in der Interaktion mit einem anderen Kind. Sie gehen auf einen fremden Menschen zu und schlagen oder stoßen ihn, und wenn du versuchst zu intervenieren und über das zu sprechen, was geschehen ist, scheint es sie nicht zu kümmern – als hätten sie keine Empathie und kein Mitleid. Und manchmal ist es in der Tat so.
Auf dem Spielplatz, in Kindertagesstätten, im Kindergarten oder auf dem Schulhof trifft man Zweijährige mit einem solchen Verhalten, und sie haben alle einen anderen Hintergrund als die Fünf- bis Achtjährigen, die sich genau so verhalten (und die sind im Grunde Zweijährige, denen niemand geholfen hat). Die Jüngeren kommen meist aus Familien, in denen sie permanent im absoluten Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Eltern und möglicherweise auch der Großeltern stehen. Sie werden vergöttert und endlos gepriesen, und jeder Wunsch, den sie äußern, wird unverzüglich erfüllt. Nachdem sie zwei Jahre lang wie Prinzen und Prinzessinnen behandelt und bedient wurden, kooperieren sie und verhalten sich wie Könige und Königinnen. Sie werden zu sogenannten »verwöhnten« Kindern. Ein verwöhntes Kind bekommt zu viel von dem, was es nicht braucht, und zu wenig von dem, was es wirklich braucht.
Diese Kinder wachsen in Familien ohne Führung und ohne echte Menschen auf. Die Eltern schaffen alle ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen ab, entweder um keine Konflikte zu haben oder lediglich aus Überzeugung. Sie leben ein Leben, das aus künstlichem Rollenspiel und Theater besteht, das Kind hat keine Möglichkeit, zu erfahren, was authentisches Menschsein bedeutet. Sie haben keine Ahnung, dass Menschen Gefühle, Grenzen, Neigungen und Abneigungen, Bedürfnisse und Pläne haben können. In einer solchen Familie kann man keine Empathie entwickeln. Stattdessen werden sie zu eigensinnigen, dominanten Rabauken, die einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn nicht alles so läuft, wie sie es
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