Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
destruktiver Aggression wird mit einem Lächeln, einer süßen Stimme oder einer zarten Berührung getarnt. Manchmal ist sich der Täter seiner Aggression gar nicht bewusst; manchmal ist er schlau genug und kann, rein äußerlich gesehen, nicht schuldig gesprochen werden.
Werfen wir zum Beispiel einen Blick auf die unterschiedliche Herangehensweise von Jungen und Mädchen: Wenn sich Jungs streiten, geht es zur Sache – sie treffen sich und kämpfen miteinander; wenn der Kampf vorbei ist, dann ist er vorbei. Mädchen neigen dazu, ihre destruktive Aggression eher indirekt auszudrücken – mit Worten. Dabei können sie sehr gemein zueinander sein; ihre Zwistigkeiten können in Geschichten ausarten, die kein Ende finden.
Ich kann mich an eine therapeutische Sitzung mit meiner ersten Frau erinnern – meine Frau fuhr schweres Geschütz auf und klagte mich unentwegt an. Mich regte das auf, und ich fing an, mich zu verteidigen, bis mich der Therapeut unterbrach und sagte: »Kannst du nicht hören, wie sehr sie dich liebt?« – Das tat sie, nur ich konnte es nicht hören – jedenfalls nicht, bevor fünfzig weitere Episoden wie diese verstrichen waren. Erst dann war ich in der Lage, ihre Verzweiflung zu erkennen, ihr Bedürfnis, in meinem Leben von Bedeutung zu sein, und ihre Frustration darüber, wie schwer ich es ihr gemacht habe. Ich hätte auch einen eher weiblichen Weg wählen und den »Gekränkten« spielen können, aber das hätte zu keiner konstruktiven Veränderung geführt, es hätte bloß die Schuld verlagert.
Mein Enkel hat eine geniale, nonverbale Geste erfunden, als er gerade mal eineinhalb Jahre alt war. Wenn jemand seine Integrität verletzt hat, stand er ganz gerade und berührte mit dem Kinn die Brust – er sah fast wie ein menschliches Ausrufezeichen aus. Als er ungefähr vier Jahre alt war, hatten wir einen kleinen Konflikt, und plötzlich stand er wieder wie ein Ausrufezeichen da. Ich dankte ihm dafür, dass er auf diese Geste gekommen ist; so weiß ich immer, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Danach stellte ich ihm die Frage, ob er das denn auch im Kindergarten machen würde. Er sah mich an, und mit einer Stimme, die so klang, als wäre er ein Lehrer, sagte er zu mir: »Nein, dort hört niemand zu!« Selbstverständlich, er hatte recht. In einer Institution musst du laut sein: Nonverbalen Botschaften wird keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Was hat das alles jedoch mit dem Fall zu tun, wenn ein dreijähriger Junge seine Schwester, die noch ein Baby ist, mit seinem neuen großen Spielzeuglaster schlägt, nur weil sie versucht hat, ihn dem Jungen wegzunehmen, oder er den Eindruck hatte, dass sie sich in sein Spiel einmischen möchte?
Die Antwort ist, dass die kleine Schwester die persönliche Grenze des Jungen überschreitet, und das führt dazu, dass er sich weniger wertvoll und bedeutend für sie fühlt, als er es sein wollte. Er hat keine Ahnung, dass sie das gar nicht so auslegt, und regt sich darüber auf – in dem Augenblick ist es völlig egal, wer ihm den Spielzeuglaster wegnimmt. Wenn jemand in dein Haus eingebrochen ist und dir dein Fahrrad geklaut hat, weißt du genau, wie sich der Junge fühlt und warum er aggressiv reagiert. – Bedeutet das, dass seine Gewalttat bestraft werden sollte? Nein, es bedeutet lediglich: Er muss lernen, wie er der kleinen Schwester seine persönlichen Grenzen in einer nicht gewaltsamen Art verständlich macht, so dass sie diese demnächst achten kann. Als Vater oder Mutter kannst du dem Jungen einfach sagen: »Ich möchte nicht, dass du deine Schwester schlägst, aber ich verstehe, weshalb du so aufgebracht bist. Ich werde es dir beibringen, wie du es anstellen kannst, dass dich deine Schwester respektiert. Aber sie ist noch sehr klein, und es könnte noch eine Weile dauern, bis sie uns versteht.« Mit diesem Satz wirst du mehrere Dinge erreichen:
In dem ersten Satz deiner Aussage hast du gezeigt, dass man Grenzen setzen kann, ohne aggressiv oder gewalttätig zu werden.
In dem zweiten Satz erkennst du die Bedeutung der persönlichen Integrität an, und auf diese Weise bewirkst du, dass sich der Junge wertvoll fühlt. Und durch deinen letzten Satz gelingt es dir schließlich, deine Weisheit mit ihm zu teilen, und lässt ihn noch mal spüren, dass er wertvoll ist.
Traditionell reagieren Eltern meist anders, sie schwingen sich zu moralischen Höhen auf und beschuldigen den Jungen, seine Schwester verletzt zu haben, und setzen noch eins drauf, indem sie ihm
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