Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Scheiße, doch das, was uns einzig bekümmert, ist ihr aggressives und selbstdestruktives Verhalten – das heißt das oberflächlichste Symptom eines ernsteren Zustands. Ist man nämlich zufällig Empfänger, muss so etwas zu Aggression und Gewalt führen – egal, wie gutgemeint die Botschaft des Senders war.
IV. Aggression integrieren
Die historischen Ursachen der Aggression machen sich dann bemerkbar, wenn wir uns die Mühe machen, sie auszugraben, weil sie uns als plausible Erklärung für aggressives und gewaltsames Verhalten dienen. Ein weiterer Aspekt der Erklärung ist in der Begegnung zwischen zwei Menschen hier und jetzt zu finden. Selbst wenn wir unser Bestes in der Beziehung zu einer anderen Person geben, gibt es immer die Möglichkeit, dass diese Person sich verletzt, gedemütigt oder nicht wahrgenommen fühlt, und umgekehrt gilt dasselbe. Unsere eigenen Reaktionen sowie die der anderen haben ihre Wurzeln möglicherweise in Kindheitserfahrungen, die augenblickliche Begegnung jedoch spielt gleichermaßen eine Rolle. Die Neurowissenschaft sowie die klinische Erfahrung zeigen uns, dass häufig neue konstruktive Begegnungen die alten destruktiven heilen können. Deshalb sind Begegnungen zwischen Kindern und ihren Erziehern oder Lehrern so wichtig. Wir müssen nicht Psychotherapeuten werden, um therapeutisch zu wirken!
Mit dem Alter werden einige Menschen reifer, andere nicht. Die emotionalen Reaktionen jener Menschen, die reifer geworden sind, haben eine Eigenschaft: Sie sind weniger spannungsgeladen und eher integrierender Natur. Die Kombination von Emotion, Intelligenz und Erfahrung zahlt sich in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Die Menschen hingegen, die im Lauf der Zeit nicht reifer werden, neigen dazu, noch heftiger und aggressiver zu werden – obwohl ihre Reaktionen im Mantel des Zynismus und des Grolls getarnt daherkommen.
Ein durchschnittliches Kind, das in einem sicheren und fürsorglichen Umfeld aufwächst, braucht eine ganze Kindheit experimentellen Lernens, um alle seine aggressiven Gefühle zu integrieren, die destruktiven unter Kontrolle zu bekommen und sie von den konstruktiven zu unterscheiden. Wer diese natürliche Entwicklung beschleunigen will, gefährdet die geistige Gesundheit des Kindes und landet womöglich beim Gegenteil von dem, was er ursprünglich durch seine Intervention beabsichtigt hat.
Konstruktive und destruktive Aggression
Aggression ist sehr viel mehr als Wut, Reizbarkeit, Schreien und Brüllen. Ohne Aggression wären wir nicht imstande, uns Ziele zu setzen und sie zu verfolgen. Wir wären nicht fähig, Karriere zu machen, guten Sex zu haben oder unsere Träume zu verwirklichen. Wir könnten nicht Fußball oder Tennis spielen und auch keinen Marathon bis zu Ende laufen. Wir wären nicht in der Lage, jemanden zu verführen, unsere Grenzen zu bestimmen oder unsere Kinder zu beschützen. Wir würden keine Klippen ersteigen, nicht gegen Krebs kämpfen oder einen Diktator stürzen. Ohne Aggression wäre ich nicht in der Lage gewesen, dieses Buch zu schreiben. Aggression auszumerzen würde heißen, unsere Lebensqualität zu reduzieren sowie die unserer Beziehungen und der individuellen wie kollektiven Leistungen. Liebe und Aggression gehen oft Hand in Hand – so wie wenn wir über den Tod von jemandem trauern oder über unseren eigenen nachdenken.
Nur wenn wir unsere Aggression in Form von Gewalt an anderen Menschen auslassen, deren Hab und Gut oder öffentliches Eigentum zerstören, wird sie destruktiv. Der deutsche Neurobiologe Joachim Bauer schreibt: »Erfolgreich kommunizierte Aggression ist konstruktiv. Aggression, die ihre kommunikative Funktion verloren hat, ist destruktiv.« [11] Die »kommunikative Funktion« allerdings erfordert mindestens zwei Menschen – im Fall von Kindern und Jugendlichen ist es für ihren Reifungsprozess entscheidend, inwiefern Erwachsene bereit und fähig sind, Kinder und Jugendliche zu verstehen und mit ihnen in einen kommunikativen Prozess einzutreten.
Das ist für die meisten von uns relativ einleuchtend, doch in dem Augenblick, in dem wir unser individuelles Denken und emotionales Leben erschließen und feststellen, wie unterschiedlich wir das, worüber andere sprechen, erfahren, wird es kompliziert. Ich zum Beispiel halte jede absichtliche, gedankenlose oder zufällige Verletzung der Integrität einer anderen Person für aggressiv – egal, wie der emotionale Ton, der mit der Tat einhergeht, klingt. Jede Menge
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