Agnes: Roman (German Edition)
gingen miteinander wieder an die Brüstung, obwohl die Raketen weit über uns explodierten und wir sie genausogut von der Mitte des Daches aus hätten sehen können.
»Wie lange ist die Schweiz schon unabhängig?« fragte Agnes.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, »das ist schwer zu sagen.«
10
Als wir wieder in die Wohnung kamen, war uns kalt.
»Jetzt mußt du mit der Geschichte anfangen«, sagte Agnes.
»Gut«, sagte ich, »du mußt mir Modell sitzen.«
Wir gingen ins Arbeitszimmer. Agnes setzte sich in den Korbstuhl am Fenster, und als solle sie fotografiert werden, strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, zupfte am Kragen ihrer Bluse und lächelte mich an. Ich setzte mich an den Computer und schaute sie an. Wieder erstaunten mich trotz des Lächelns der Ernst in ihrem Gesicht und ihr Blick, dessen Sprache ich nicht verstand.
»Wie möchtest du denn aussehen?« fragte ich.
»Es muß schon stimmen«, sagte sie. »Aber nett soll es sein. Du hast dich ja schließlich in mich verliebt, nicht wahr?«
Ich schrieb.
Ich sah Agnes zum erstenmal in der Chicago Public Library, im April dieses Jahres.
»Was hast du geschrieben?« fragte sie.
Ich las ihr den Satz vor, und sie war zufrieden.
»Du mußt mir nicht Modell sitzen«, sagte ich, »ich wollte dich nur wieder einmal in aller Ruhe anschauen.«
»Es macht mir nichts aus«, sagte Agnes.
»Aber ich kann gar nicht schreiben, wenn du so dasitzt und mich beobachtest. Machst du uns einen Kaffee?«
Agnes ging in die Küche. Als sie zurückkam, las ich ihr vor, was ich geschrieben hatte.
Ich sah Agnes zum erstenmal in der Chicago Public Library, im April dieses Jahres. Sie fiel mir gleich auf, als sie sich im Lesesaal mir gegenüber setzte. Ihre linkischen Bewegungen paßten nicht recht zum schlanken, fast zerbrechlichen Körper. Ihr Gesicht war schmal und bleich, ihr Haar fiel dunkel auf ihre Schultern. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, und ich sah ihre erstaunten blauen Augen. Als sie den Lesesaal verließ, folgte ich ihr. Auf der Treppe vor der Bibliothek trafen wir uns wieder, und ich lud sie ein zu einer Tasse Kaffee.
Unser Gespräch entwickelte sich seltsam rasch. Wir sprachen über Liebe und Tod, noch bevor wir unsere Namen kannten. Sie hatte strenge Ansichten. Mein Zynismus reizte sie, und wenn sie aufgeregt war, wurde sie rot und wirkte noch verletzlicher als sonst.
Agnes ärgerte sich. »Das brauchst du wirklich nicht so zu schreiben.«
»Soll ich oder soll ich nicht? Es war deine Idee.«
»Ich wurde als Kind immer rot. Und in der Schule haben sie mich ausgelacht und gehänselt deswegen. Mein Vater ertrug es nicht, daß ich ausgelacht wurde.«
»Und du?«
»Man gewöhnt sich daran. Ich habe viel gelesen. Und ich war gut in der Schule.«
»Soll ich es streichen?«
»Ja, bitte. Ist es unbedingt nötig, daß du von meiner Kindheit schreibst? Es ist doch nur eine Geschichte. Kann ich nicht einfach in der Bibliothek auftauchen, wie ich bin? So wie ich jetzt bin?«
»Gut«, sagte ich, »du wirst aus meinem Kopf neu geboren wie Athene aus dem Kopf von Zeus, weise, schön und unnahbar.«
»Ich will nicht unnahbar sein«, sagte Agnes und küßte mich auf den Mund.
11
In den folgenden Wochen vernachlässigte ich die Luxuseisenbahnwagen. Ich schrieb nun an Agnes’ Geschichte, schrieb, wie alles gewesen war, und wenn wir uns trafen, las ich ihr die neuen Kapitel vor.
Ich war erstaunt, wie vieles Agnes und ich anders erlebt oder anders in Erinnerung hatten. Oft konnten wir uns nicht darauf einigen, wie etwas genau gewesen war, und auch wenn ich mich mit meiner Version meistens durchsetzte, war ich mir nicht immer sicher, ob Agnes nicht vielleicht doch recht hatte.
So konnten wir uns zum Beispiel lange nicht einigen, in welchem Restaurant wir zum erstenmal zusammen gegessen hatten. Agnes behauptete, es sei im indischen, ich, es sei im chinesischen Restaurant gleich gegenüber gewesen. Ich glaubte sogar, mich daran zu erinnern, was ich gegessen hatte. Aber schließlich fiel Agnes ein, daß sie die Verabredung in ihren Taschenkalender notiert hatte, und der Eintrag bewies, daß ich im Unrecht war.
Manches, was ich ausführlich beschrieb, empfand sie als belanglos. Anderes, was ihr wichtig war, kam in der Geschichte gar nicht vor oder nur kurz, wie die tote Frau, die wir an jenem Abend vor dem Restaurant gefunden hatten. Ich erwähnte den Vorfall, schrieb aber nichts weiter darüber, nicht, daß wir später deren Geschichte erfahren hatten
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