Ahnentanz
gewesen, dass merkwürdige Dinge vor sich gingen, dass alte Geister aus vergangenen Jahrhunderten Tag und Nacht anwesend waren – im Haus und in ihren Träumen. Vor langer Zeit hatte sich auf der Plantage eine gewaltsame Tragödie zugetragen. Als Amelia dem Tod näher kam, schien sie überzeugt, dass ihre Vorfahren sie heimsuchten und mit ihren knochigen Fingern aus dem Grab nach ihr griffen.
Und dennoch hatte sie in den Stunden vor ihrem Tod so friedlich gewirkt. Geradezu erfreut über die Geister, als ob sie Familienmitglieder wären, die sie liebten und die sie nun nach Hause holten.
Die Hälfte der Zeit, die ich hier war, habe ich mich gegruselt und war halb besinnungslos vor Angst, dachte Kendall. Doch ich bin geblieben, weil ich mich um Amelia gesorgt habe. Wo waren diese Jungs gewesen, als sie ihre richtige Familie um sich gebraucht hätte? Wie hatten sie so völlig ahnungslos sein können von der Existenz dieses Familienmitglieds?
Doch diese Frage konnte warten. Das Wichtigste war im Moment, dass sie so schnell wie möglich hier wegkam.
Aber wie?
Geh zur Vordertür hinaus und zeig es diesen Mistkerlen, beschloss sie.
Sie warf den Kopf zurück und ging die Treppe hinunter, wo sie ihren Rucksack neben die Tür stellte, um mit beiden Händen den Riegel zu öffnen. Als sie die Tür öffnete, standen die drei Männer bereits auf der Veranda.
„Hallo“, sagte sie, als hätte sie jedes Recht der Welt, hier zu sein. Was sie tatsächlich hatte, wie sie sich ins Gedächtnis rief.
Ein streng wirkender, kantiger Mann mit kobaltblauen Augen und dunklen Haaren starrte sie kühl an. Glücklicherweise machten die anderen beiden Brüder einen bedeutend freundlicheren Eindruck. Der eine lächelte sie sogar neugierig an.
„Entschuldigen Sie. Ich bin Kendall Montgomery. Ich begleitete Amelia – Ihre … Tante? – in ihren letzten Tagen“, erklärte sie. „Ich … ich habe einige Dinge hier zurückgelassen, die ich jetzt holen wollte. Ich nehme an, Sie sind die Flynn-Brüder?“
„Das sind wir“, antwortete der, der lächelte. „Das zu meiner Linken ist mein ältester Bruder Aidan, und zu meiner Rechten steht Zach, der Jüngste. Ich bin Jeremy.“
„Na dann“, sagte sie unbehaglich. „Ich werde …“
„Ich dachte, Amelia sei vor drei Monaten gestorben“, sagte Aidan.
Sie sah ihn an. Er war groß, durchtrainiert und recht imposant, mit klaren, ausgeprägten Gesichtszügen. Doch es warweniger der Kämpferausdruck in seinem Gesicht, der sie abschreckte, als vielmehr sein Ton und das eisige Dunkel in seinen Augen, wenn er sie anschaute.
„Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt. Ich habe ihr Begräbnis arrangiert, mich um ihre letzten Rechnungen gekümmert und alles für Sie drei vorbereitet“, entgegnete sie und war sich des beißenden Untertons in ihrer Stimme wohl bewusst.
„Wohnen Sie seitdem hier?“, fragte er kurz.
„Aidan …“, murmelte Zach.
„Ich habe mich um Amelia gekümmert. Sie wussten nicht einmal von ihrer Existenz“, gab sie zurück.
„Das ist richtig, wir wussten nicht, dass es sie gab. Wir wussten nichts von diesem Ort. Vermutlich hätten wir etwas wissen sollen, aber … wir taten es eben nicht“, sagte Jeremy leise.
„Ganz ehrlich“, ergänzte Zachary. „Wir haben diese Gegend immer gemocht, aber wir hatten keine Ahnung, dass wir hier Familie haben. Offenbar haben Sie sich um Amelia gekümmert, und nun, da wir davon wissen, sind wir sehr dankbar.“
„Sie war eine wunderbare alte Dame“, sagte Kendall und blickte zur Seite. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. „Sehr liebenswert.“ Sie starrte den ältesten Bruder an. Mit einem Meter fünfundsiebzig war sie nicht gerade klein, aber sie musste aufsehen, um ihm in die Augen zu blicken, und sie scheute davor zurück.
Was zum Teufel war mit ihr los? Es war doch egal. Wenn er zu ignorant war, um dankbar zu sein, was machte das schon? Amelia war tot und begraben, und sie hatte ihr eigenes Leben. Sie hatte nicht alles aufgegeben, um für Amelia zu sorgen. Sie würde einfach in ihr altes Leben zurückkehren und diesen Idioten den Platz überlassen.
Nein, das war nicht gerecht.
Sie schienen nicht alle Idioten zu sein, nur dieser eine. „Nun, wie ich schon sagte, ich arbeite für meinen Lebensunterhalt“, sagte sie. „Sie sind hier, und ich muss los, also …“
„Was arbeiten Sie denn?“, fragte Aidan.
Es ärgerte sie selbst, dass sie zögerte, doch sie wusste nur zu gut, dass er sich über sie lustig
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